Das Schweigen des Sammlers
Endlösung der Judenfrage drängte und wir erst auf halbem Wege waren. Er stellte keine meiner Initiativen in Frage und führte in einer bewegenden Rede vor der gesamten Lagerleitung meine Wenigkeit als Musterbeispiel für alle Angehörigen der Inquisition an. Und ich war glücklich, weil ich dem heiligsten aller Eide meines Lebens treu geblieben war. Das Problem war, wenn überhaupt, diese Frau.
Am Mittwoch, als Frau Hedwig Höß mit den anderen Frauen ins Dorf gefahren war, um Lebensmittel zu besorgen, ließ Obersturmbannführer Höß sie von seinem Leibwächter herbeibringen, mit diesen Augen, diesem sanften Gesicht und so vollkommenen Händen, dass man sie fast für ein menschliches Wesen hätte halten können. Er tat so, als wäre er ganz in seine Schreibtischarbeit vertieft, und beobachtete sie, während sie den Boden fegte, der, obwohl er zweimal täglich gesäubert wurde, immer von einer feinen Schicht Asche bedeckt war.
»Exzellenz … ich wusste nicht, dass Ihr hier seid.«
»Das ist ganz gleich, mach weiter.«
Nach Tagen voller Spannung, verstohlener Blicke und teuflischer Gedanken, die sich seiner immer stärker und unwiderstehlicher bemächtigten, erlag Fra Nicolau Eimerics eiserner Wille schließlich dem Dämon der Fleischeslust, und er sagte »Genug, es reicht«, packte die Frau von hinten, presste mit beiden Händen ihre verführerischen Brüste und vergrub seinen ehrwürdigen Bart in dem Nacken, der tausend Lustbarkeiten verhieß. Erschrocken ließ die Frau das Brennholzbündel fallen und blieb stocksteif gegen die Wand des Korridors stehen, offenbar ratlos, ob sie schreien, weglaufen oder vielmehr der Kirche einen unschätzbaren Dienst erweisen sollte.
»Heb deinen Rock«, befahl Eimeric, während er den Rosenkranz mit den fünfzehn Perlen ablegte, mit dem er seine Kutte gürtete.
Lagerhäftling Nr. 615428, angeliefert im Januar 1944 mit dem Transport A37 aus Bulgarien, im letzten Augenblick vor der Gaskammer bewahrt, weil jemand entschieden hatte, dass sie sich zu Haushaltsdiensten eignete, wagte vor Entsetzen nicht, sich nach ihm umzuwenden, und dachte, o nein, barmherziger Gott, nicht schon wieder. Geduldig wiederholte der Obersturmbannführer den Befehl. Als sie keine Reaktion zeigte, schob er sie, eher ungeduldig als brutal, zum Sessel, zerriss ihre Kleidung und berührte zärtlich ihre geschlossenen Augen, ihr Gesicht mit dem sanften Blick. Und als er in sie eindrang, erregt von ihrer wilden, aus Schwäche und Zerstörung geborenen Schönheit, wusste er, dass sich 615428 für immer in seine Haut gebrannt hatte und das tiefste Geheimnis seines Lebens bleiben würde. Danach stand er hastig auf, wieder ganz Herr der Lage, zog seine Kutte zurecht und sagte zu der Frau, zieh dich an, sechs eins fünf vier zwei acht. Schnell. Er erklärte ihr, es sei nichts geschehen, und schwor ihr, wenn sie irgendjemandem davon erzähle, werde er ihren Mann, den Scheelen von Salt, samt ihrem Sohn und ihrer Mutter einsperren lassen. Und sie werde er der Hexerei anklagen, denn genau das bist du, eine Hexe, die versucht hat, mich mit ihren bösen Kräften zu verführen.
In den nächsten Tagen wiederholte sich das Schauspiel. Lagerhäftling Nr. 615428 musste sich nackt niederknien, und Obersturmbannführer Höß nahm sie, und seine Exzellenz Nicolau Eimeric erinnerte sie keuchend daran, dass sie sich hüten solle, dem elenden Scheelen von Salt gegenüber auch nur ein Wort zu verlieren, sonst landest du als Hexe auf dem Scheiterhaufen, denn du hast mich verhext, und 615428 konnte weder ja noch nein sagen, sondern nur vor Entsetzen weinen.
»Hast du meinen Rosenkranz gesehen, der, den ich als Gürtel trage?«, fragte seine Exzellenz. »Wenn du ihn mir gestohlen hast, kannst du was erleben.«
Bis Doktor Voigt, dieser Idiot, begann, sich für seine Geige zu interessieren, und den entscheidenden Schritt zu weit ging, den kein Großinquisitor jemals dulden kann. Aber die Partie ging an Voigt, und Lagerkommandant Eimeric musste das Instrument vor ihm auf den Tisch legen. Er tat es mit einem lauten Knall.
»Und was ist mit ihrer Schweigepflicht, Sie Schweinehund.«
»Ich bin kein Priester.«
Sturmbannführer Voigt griff mit gierigen Händen nach der Geige, und Rudolf Höß schlug im Hinausgehen heftig die Tür zu und ging mit großen Schritten zur Kapelle des Inquisitionssitzes hinüber. Dort lag er zwei Stunden lang auf den Knien und beweinte seine Schwäche gegenüber den Versuchungen des Fleisches, bis ihn sein
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