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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Kornelia. Ein Buchfink landete auf dem Brunnen vor mir, trank einen Schluck Wasser und trillerte melodiös. Adrià spürte, wie ihn ein Schauder überlief.
    Am Vorabend des Sankt-Jakobs-Tags beim Vespergeläut war Josep Xaroms einziger Trost, dass ihm der Blick Fra Nicolaus, des Verteidigers der Kirche, erspart blieb, den das hartnäckige Fieber auf seine Pritsche geworfen hatte. Doch die relative Lauheit Fra Miquels de Susqueda, Notar und Adjutant des Großinquisitors, ersparte ihm keinen Schmerz, kein Leiden, kein Grauen. In der trägen, von den letzten gnadenlosen Sonnentagen aufgeheizten Morgendämmerung verließen zwei Frauen und ein Mann das Ghetto. Sie führten drei mit Packsätteln und Lastkörben voller Erinnerung beladene Maultiere mit sich, auf denen fünf schlafende Kinder saßen, flohen am Ter entlang den beiden Familien nach, die bereits am Tag zuvor aufgebrochen waren, und kehrten der edlen, undankbaren heißgeliebten Stadt Girona den Rücken, in der sechzehn Generationen von Xaroms und Meirs gelebt hatten. Noch stieg träge die Rauchsäule von dem Scheiterhaufen auf, auf dem der unglückselige Josep Xarom verbrannt war, getötet vom Neid eines unbekannten Denunzianten. Dolça Xarom, das einzige Kind, das rechtzeitig erwachte, um noch einen letzten Blick auf die stolzen Mauern der Kathedrale vor dem Sternenhimmel zu erhaschen, beweinte im Trott des Maultiers lautlos all das, was in einer einzigen Nacht gestorben war. Ein Hoffnungsfunken erwartete die Gruppe in Estartit: ein Schiff, das der arme Josep Xarom und Massot Bonsenyor ein paar Tage zuvor angeheuert hatten, als sie das Böse hatten kommen sehen, ohne genau zu wissen, woher, wie und wann es über sie hereinbrechen würde.
    Von einem sanften Westwind getrieben, segelte das Schiff dem Albtraum davon. Am nächsten Abend legte es in Ciutadella auf Menorca an, wo sechs weitere Menschen zustiegen, und drei Tage später erreichte es Palermo auf Sizilien, wo sie sich eine halbe Woche lang von der Seekrankheit erholten, die sie in der rauen See des Tyrrhenischen Meers überkommen hatte. Als sie wieder bei Kräften waren, überquerten sie bei günstigem Wind das Ionische Meer und landeten im Hafen der albanischen Stadt Durrësi. Dort gingen die sechs Familien an Land, die vor den Tränen an einen Ort fliehen wollten, wo sich niemand von ihren gemurmelten Sabbatgebeten beleidigt fühlte. Die jüdische Gemeinde von Durrësi nahm sie mit offen Armen auf, und so ließen sie sich hier nieder.
    Dolça Xarom, das Flüchtlingsmädchen, bekam Kinder, Enkel und Urenkel, und noch mit achtzig Jahren verfolgte sie hartnäckig die Erinnerung an die stillen Straßen des Ghettos von Girona und den Umriss der christlichen Kathedrale, wie sie sich unter einem Tränenschleier gegen den Sternenhimmel abhob. Doch trotz aller Sehnsucht lebte und gedieh die Familie Xarom zwölf Generationen lang in Durrësi, und irgendwann kam der Augenblick, in dem die Erinnerung an den von den ungläubigen Gojim verbrannten Vorfahren zerbrach und beinahe aus dem Gedächtnis der Kindeskinder verschwand, ebenso wie der ferne Name des geliebten Girona. Und eines schönen Tages im Jahr des Patriarchen 5420, dem unglückseligen Jahr 1660 nach christlicher Zeitrechnung, folgte Emanuel Meir dem Lockruf, der an der Schwarzmeerküste Erfolg im Handel verhieß. Emanuel Meir, Nachkomme der geflohenen Dolça in der achten Generation, zog in das geschäftige Varna zu einer Zeit, in der die Hohe Pforte in Bulgarien über Recht und Gesetz beschied. Meine Eltern, glühende Katholiken im lutheranisch geprägten Deutschland, hatten sich gewünscht, dass ich Geistlicher würde. Und tatsächlich habe ich eine Zeitlang mit dem Gedanken gespielt.
    »Sie hätten einen guten Priester abgegeben, Herr Obersturmbannführer.«
    »Ich denke schon.«
    »Da bin ich mir ganz sicher: Was immer Sie machen, machen Sie gut.«
    Bei diesem wohlverdienten Lob richtete sich Obersturmbannführer Höß auf. Und um sein Verdienst noch mehr herauszustreichen, sagte er gemessen: »Was Sie als eine Tugend loben, könnte ebenso gut mein Verderben sein. Vor allem jetzt, da der Besuch von Reichsführer Himmler ansteht.«
    »Weshalb?«
    »Weil ich mich als Lagerleiter für alle Mängel des Systems verantwortlich fühle. Beispielsweise ist von der letzten Zyklonlieferung nur noch Gas für zwei, höchstens drei Chargen übrig, und der Lagerverwalter hat mir weder Bescheid gegeben noch nachbestellt. Und schon muss ich Gefälligkeiten erbitten,

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