Das Schweigen des Sammlers
er wahnsinnig vor Liebeskummer. Und eines Tages begann der Schnee zu schmelzen, und die Landschaft wurde immer grüner, und am liebsten wäre er nicht mehr trauriggewesen, um die verschiedenen Grüntöne genießen zu können. Und da er nicht die geringste Absicht hatte, im Sommer nach Hause zu seiner unnahbaren Mutter zurückzukehren, beschloss er, sein Leben zu ändern, ein wenig zu schmunzeln, mit den anderen Pensionsgästen mal ein Bier zu trinken, die Cafeteria des Fachbereichs zu besuchen, grundlos zu lachen und ins Kino zu gehen, um sich langweilige, unglaubwürdige Geschichten anzusehen, vor allem aber, um nicht vor Liebeskummer zu sterben. Und er begann, von einer unbestimmbaren Unrast getrieben, die Studentinnen mit anderen Augen zu betrachten, jetzt, da sie nach und nach Mützen und Anoraks ablegten, und stellte fest, dass sie sehr hübsch waren, und das ließ die Gesichtszüge der verschwundenen Sara sachte verschwimmen, verwischte aber nicht die Fragen, die ich mir ein Leben lang gestellt habe, wie zum Beispiel die, was du meintest, als du mir sagtest, ich bin weinend weggelaufen und habe mir gesagt, o nein, nicht schon wieder. Aber in Geschichte der Ästhetik saß Adrià hinter einer jungen Frau mit schwarzem, lockigem Haar, die einen Blick hatte, der ihn ein wenig schwindelig machte, Kornelia Brendel hieß und aus Offenbach kam. Sie fiel ihm auf, weil sie unerreichbar schien. Also lächelte er sie an, und sie lächelte zurück, und kurz darauf tranken sie zusammen Kaffee in der Cafeteria des Fachbereichs, und sie konnte es kaum fassen, dass er nicht den geringsten Akzent hatte, ich dachte echt, du bist Deutscher. Und nach dem Kaffee schlenderten sie gemeinsam durch den frühlingsgrünen Park, und Kornelia war die erste Frau, mit der ich geschlafen habe, Sara, und ich hielt sie in meinen Armen und tat so, als ob … Mea culpa, Sara. Und ich begann sie zu lieben, obwohl sie manchmal Dinge sagte, die ich nicht verstand. Und ich konnte ihrem Blick standhalten. Kornelia gefiel mir. Und so vergingen ein paar Monate. Ich klammerte mich verzweifelt an sie. Deshalb war ich so beunruhigt, als sie zu Beginn des zweiten Winters auf dem Rückweg vom Kloster Bebenhausen sagte, komm heute Abend nicht zu mir.
»Warum?«
»Ich habe was vor.«
Sie ging, ohne ihn zu küssen, und Adrià spürte, wie seine Seele ins Taumeln geriet, weil er nicht wusste, dass man zu einer Frau sagen kann, he, Moment mal, was soll das denn heißen, du hast was vor? Oder dass man klug sein und denken sollte, sie ist dir keine Rechenschaft mehr schuldig. Oder doch? Sie ist doch deine Freundin, oder? Durfte Kornelia Brendel Geheimnisse haben?
Adrià ließ Kornelia die Wilhelmstraße entlang davonziehen, ohne eine Erklärung zu fordern, denn im Grunde genommen hatte er ja auch Geheimnisse vor Kornelia: So hatte er ihr zum Beispiel nicht von Sara erzählt. Wie auch immer, zwei Minuten später bereute er schon, dass er sie ungehindert hatte ziehen lassen. Er sah sie nicht in Griechisch und nicht in Erkenntnistheorie, nicht einmal im offenen Seminar über Moralphilosophie, das sie doch sonst nie versäumte. Und zutiefst beschämt über mich selbst, ging ich zur Jakobsgasse und bezog, halb verborgen und noch beschämter über mich selbst, an der Ecke zur Schmiedtorstraße Stellung, als wartete ich auf die Linie 12. Und nachdem die 12 schon zehn oder zwölf Mal vorbeigefahren war, stand ich immer noch mit froststarren Füßen dort und versuchte, Kornelias Geheimnis zu ergründen.
Um fünf Uhr nachmittags, als er schon vom Herzen abwärts eingefroren war, tauchte Kornelia mit ihrem Geheimnis auf. Das Geheimnis war der große blonde, hübsche, lachende Knabe, den sie im Kreuzgang von Bebenhausen kennengelernt hatte und der sie jetzt küsste, bevor sie zusammen im Haus verschwanden. Er küsste sie sehr viel besser, als ich es je vermocht hatte. Und damit fingen die Probleme an. Nicht etwa, weil ich ihr hinterherspioniert hatte, sondern weil sie es bemerkte, als sie im Wohnzimmer die Vorhänge zuzog und Adrià an der Straßenecke vor ihrem Haus stehen sah, als wartete er auf die Linie 12, halb erfroren und mit ungläubig aufgerissenen Augen zu ihr hinaufstarrend. In dieser Nacht lief ich durch die Straßen und weinte, und als ich nach Hause kam, lag da ein Brief von Bernat. Ich hatte seit Monaten nichts von ihm gehört, und nun schrieb er mir, dass er vorGlück fast platze, dass sie Tecla heiße und dass er mich auf jeden Fall besuchen komme.
Seit
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