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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Lastwagen herbeordern, die womöglich an anderer Stelle gebraucht würden, und mich zusammenreißen, um nicht den Verwalter anzuschnauzen, denn in Auschwitz lebt jedermann hart an der Grenze seiner Kraft.«
    »Ich denke, Ihre Erfahrung in Dachau …«
    »Aus psychologischer Sicht ist das ein gewaltiger Unterschied. In Dachau hatten wir Gefangene.«
    »Meines Wissens starben und sterben dort sehr viele.«
    »Ja, Doktor Voigt, aber Dachau ist ein Gefangenenlager, Auschwitz-Birkenau hingegen ist für die Ausrottung vonUngeziefer entworfen, berechnet und erbaut. Zum Glück sind Juden keine Menschen, sonst hätten wir hier das Gefühl, in einer Hölle zu leben, die nur eine Tür hat, nämlich die zur Gaskammer, und nur ein Ziel, nämlich die Krematorien oder die Gruben im Wald, in denen wir die überschüssigen Kadaver verbrennen, denn sie schicken uns so viel Material, dass wir gar nicht nachkommen. Das alles habe ich noch nie einem Außenstehenden erzählt, Doktor.«
    »Sie tun gut daran, sich das Ganze mal von der Seele zu reden, Herr Obersturmbannführer.«
    »Ich verlasse mich darauf, dass Sie sich an Ihre Schweigepflicht halten, denn wenn der Reichsführer …«
    »Selbstverständlich. Für Sie als Christ ist ein Psychiater wie ein Beichtvater. Wie der Beichtvater, der Sie hätten werden können.«
    Einen Moment lang überlegte Höß, da sie schon so beisammen saßen und plauderten, ob er Voigt etwas über diese Frau erzählen solle, aber nach kurzem Zögern verkniff er es sich dann doch. Gerade noch rechtzeitig, dachte er. Er hätte vorsichtiger mit dem Wein sein sollen. Stattdessen ließ er sich darüber aus, dass seine Leute stark sein mussten, um die ihnen übertragene Arbeit zu verrichten. Vor ein paar Tagen war ein Soldat von dreißig Jahren, kein Jungspund also, in der Baracke vor versammelter Mannschaft in Tränen ausgebrochen.
    Doktor Voigt warf einen raschen Blick auf seinen Besucher; er ließ sich seine Überraschung nicht anmerken, wartete, bis sein Gesprächspartner fast in einem Zug das erneut gefüllte Glas getrunken hatte, und wartete ein paar Sekunden, ehe er die Frage stellte, auf die der andere schon begierig wartete: »Und was ist dann passiert?«
    »Bruno, Bruno, wach auf!«
    Aber Bruno wachte nicht auf, er brüllte, dass ihm der Kummer aus Mund und Augen quoll, und Rottenführer Mathäus schickte nach seinen Vorgesetzten, weil er nicht wusste, was er tun sollte, und drei Minuten später erschien der Lagerkommandant Rudolf Höß höchstpersönlich, und zwar genau in dem Augenblick, als der Soldat Bruno Lübke die Pistole gezogen und sie sich, unentwegt weiterbrüllend, in den Mund geschoben hatte. Ein Soldat! Ein gestandener SS-Mann!
    »Stillgestanden, Soldat!«, schrie Obersturmbannführer Höß. Aber der Soldat brüllte weiter und schob sich die Pistole immer tiefer in den Rachen, und als sein Vorgesetzter Anstalten machte, dazwischen zu gehen, drückte Bruno Lübke ab und hoffte, direkt in der Hölle zu landen und für immer Birkenau zu vergessen, die Asche, die sie einatmen mussten, und den Blick des kleinen Mädchens, das seiner Ursula so ähnlich gesehen hatte und das er heute Nachmittag in die Gaskammer gestoßen und später wiedergesehen hatte, als eine jüdische Ratte vom Sonderkommando ihm die Haare abrasierte und auf den Haufen vor dem Krematorium warf.
    Höß warf einen verächtlichen Blick auf den am Boden liegenden Soldaten und die Pfütze hellroten Bluts, das dieser feige Schakal vergossen hatte, und nutzte die Gelegenheit, den völlig verdatterten Soldaten aus dem Stegreif eine Rede zu halten; er erklärte ihnen, dass es keinen besseren Seelentrost und keine größere innere Befriedigung gebe als die völlige Gewissheit, dass alles, was man tat, im Namen Gottes und in der Absicht geschah, den heiligen apostolischen Glauben vor seinen zahllosen Feinden zu bewahren, die nicht ruhen werden, bis sie ihn vernichtet haben, Fra Miquel. Und solltet Ihr eines Tages wankelmütig werden und mit mir vor anderen darüber diskutieren wollen, ob geständigen Sündern die Zunge abzuschneiden sei oder nicht, werde ich Euch – das schwöre ich, so sehr ich Eure Dienste zu schätzen weiß – an höherer Stelle wegen Laxheit und Schwäche anzeigen, die sich für einen Angehörigen der Heiligen Inquisition nicht ziemen.
    »Ich habe das nur aus Mitleid gesagt, Exzellenz.«
    »Ihr verwechselt Mitleid mit Schwäche.« Fra Nicolau Eimeric bebte vor verhaltenem Zorn. »Und wenn Ihr weiter darauf

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