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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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neuer Obersekretär, voller Sorge, weil er nicht zur ersten Begutachtung erschienen war, in diesem Zustand frommer Ergebenheit fand. Fra Nicolau erhob sich, teilte dem Sekretär mit, er sei bis zum nächsten Tag nicht zu sprechen, und ging in die Registratur.
    »Lagerhäftling Nr. 615428.«
    »Einen Augenblick, Obersturmbannführer. Ja. Transport A27 aus Bulgarien am 13. Januar dieses Jahres.«
    »Wie heißt sie?«
    »Elisaveta Meireva. Sie ist eine der wenigen, für die eine Karteikarte existiert.«
    »Was steht drauf?«
    Der Gefreite Hänsch nahm die Karte heraus und las vor, Elisaveta Meireva, achtzehn Jahre, Tochter von Lazar Meirev und Sara Meireva aus Varna. Das war’s. Gibt es ein Problem, Obersturmbannführer?
    Du süße Elisaveta mit den Feenaugen, Hexenaugen, den Lippen wie frisches Moos; schade, dass du so dünn bist.
    »Gibt es eine Beschwerde, Obersturmbannführer?«
    »Nein, nein … Aber sie soll heute noch im Eilverfahren abgefertigt werden.«
    »Sie hat aber noch sechzehn Tage im Kommando für Hausarbeit von …«
    »Das ist ein Befehl, Gefreiter.«
    »Ich kann nicht …«
    »Wissen Sie, was der Befehl eines Vorgesetzten ist, Gefreiter? Und stehen Sie gefälligst auf, wenn ich mit Ihnen rede.«
    »Jawohl, Obersturmbannführer!«
    »Na, dann los!«
    »Ego te absolvo a pecatis tuis, in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti, Obersturmbannführer.«
    »Amen«, erwiderte Fra Nicolau und küsste demütig das goldgestickte Kreuz auf der Stola seines Beichtvaters, die Seele erleichtert durch das Sakrament der Beichte.
    »Ihr Katholiken habt’s gut mit eurer Beichte«, sagte Kornelia, die mitten im Kreuzgang mit ausgestreckten Armen die Wintersonne genoss.
    »Ich bin nicht katholisch. Ich bin überhaupt nicht gläubig. Und du?«
    Kornelia zuckte mit den Schultern. Wenn sie keine passende Antwort fand, zuckte sie immer mit den Schultern und verstummte. Adrià verstand, dass ihr das Thema unangenehm war.
    »Von außen betrachtet, gefallt ihr Lutheraner mir besser. Ihr tragt eure Schuld bis zu eurem Tod mit euch herum.«
    »Ich rede nicht gerne über solche Sachen«, sagte Kornelia gereizt.
    »Warum?«
    »Weil ich dann an den Tod denken muss, was weiß ich!« Sie nahm ihn beim Arm, und die beiden verließen das Kloster von Bebenhausen. »Komm schon, sonst verpassen wir den Bus.«
    Im Bus betrachtete Adrià die Landschaft, ohne sie zu sehen, und musste plötzlich an Sara denken, wie immer, wenn er nicht aufpasste. Die Feststellung, dass ihre Gesichtszüge in seiner Erinnerung allmählich verschwammen, versetzte ihm einen Stich. Ihre Augen waren dunkel, aber waren sie schwarzoder dunkelbraun? Sara, welche Farbe hatten deine Augen? Sara, warum bist du weggegangen? Kornelia griff nach seiner Hand, und Adrià lächelte traurig. Und am Nachmittag würden sie durch die Cafés von Tübingen ziehen, erst Bier und dann, wenn sie genug davon hatten, einen schönen heißen Tee trinken, und anschließend im Deutschen Haus zu Abend essen, weil Adrià nicht wusste, was er in Tübingen machen sollte außer studieren und Konzerte besuchen. Hölderlin lesen. Coseriu zuhören, wie der sich über diesen Idioten Chomsky, den Generativismus und diesen ganzen Schwachsinn ereiferte.
    Als sie am Brechtbau aus dem Bus stiegen, flüsterte Kornelia ihm ins Ohr, komm heute Abend nicht zu mir.
    »Warum?«
    »Ich habe was vor.«
    Sie ging, ohne ihn zu küssen, und Adrià spürte, wie seine Seele ins Taumeln geriet. Und das war alles deine Schuld, weil es ohne dich keinen Grund zu leben mehr gab. Wir waren zwar nur ein paar Monate zusammen gewesen, Sara, aber ich hatte mit dir in den Wolken geschwebt, und du warst das Beste, was mir passieren konnte, bis du plötzlich weg warst. Und nachdem Adrià vor seinen schmerzlichen Erinnerungen ins ferne Tübingen geflohen war, studierte er vier Monate lang verzweifelt, versuchte erfolglos, einen Kurs bei Coseriu zu belegen, ging aber heimlich zu all seinen Vorträgen, Seminaren, Gesprächen und offenen Sitzungen, die im neu eröffneten Brechtbau oder sonstwo angeboten wurden, vor allem an der Burse. Und als plötzlich der Winter hereinbrach, fror er manchmal trotz der elektrischen Heizung in seiner Bude, aber dennoch studierte er Tag und Nacht, um nicht an Sara zu denken, Sara, warum bist du ohne ein Wort weggegangen, und wenn die Traurigkeit zu groß wurde, ging er mit eiskalter Nase am Neckar spazieren, und wenn er am Hölderlinturm ankam, dachte er, wenn er nichts dagegen unternähme, würde

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