Das Schweigen des Sammlers
rutschte im selben Augenblick aus und landete unsanft auf dem Hosenboden.
»Das hat sie gesagt«, sagte Adrià lachend.
Beschämt stand Bernat auf, fluchte leise vor sich hin und versuchte, gute Miene zu machen. Am Ende des Hügels angekommen, gab Adrià der Frau den Korb zurück.
»Touristen?«
»Studenten.«
Er gab ihr die Hand und sagte, Adrià Ardèvol, sehr erfreut.
»Herta«, sagte die Frau. Sie nahm den Korb und ging entschlossenen Schrittes davon.
Es war noch kälter als in Tübingen, geradezu unanständig kalt in dem stillen, dunklen Kreuzgang, in dem sie warteten, dass es zehn Uhr schlug und die Führung begann. Die übrigen Besucher hatten sich in den windgeschützteren Vorraum zurückgezogen. Unter ihren Füßen knirschte die unberührte Eisschicht des Nachtfrosts.
»Wie schön es hier ist«, sagte Bernat bewundernd.
»Mir gefällt es hier sehr. Ich war schon sechs oder sieben Mal hier, im Frühling, im Sommer, im Herbst … Es ist ein Ort der Ruhe.«
Bernat seufzte zufrieden und sagte, wie kannst du bloß angesichts der Schönheit und des Friedens dieses Kreuzgangs nicht gläubig sein.
»Diejenigen, die hier gelebt haben, haben zu einem rachsüchtigen, zürnenden Gott gebetet.«
»Du könntest ruhig etwas respektvoller sein.«
»Ich sage das im Ernst, Bernat, und voller Trauer.«
Wenn sie schwiegen, hörten sie nur das Eis unter ihren Schritten knirschen. Die Vögel hatten sich vor der Kälte verkrochen. Bernat holte tief Luft und stieß eine weiße Wolke aus wie eine Lokomotive. Und Adrià fuhr fort: »Der Gott der Christen ist ein zürnender, rachsüchtiger Gott. Wer ein Unrecht begeht und nicht bereut, wird mit ewigem Höllenfeuer gestraft. Das erscheint mir eine so unangemessene Reaktion, dass ich mit diesem Gott nichts zu tun haben will.«
»Aber …«
»Aber was.«
»Er ist der Gott der Liebe.«
»Wer’s glaubt, wird selig: Du schmorst auf ewig in der Hölle, weil du die Messe geschwänzt oder deinen Nächsten bestohlen hast. Wo soll denn da die Liebe sein?«
»Das ist eine sehr einseitige Sicht.«
»Mag sein: Ich bin kein Fachmann auf diesem Gebiet.«Adrià blieb stehen: »Es gibt andere Dinge, die mir mehr zu schaffen machen.«
»Wie zum Beispiel?«
»Das Böse.«
»Was?«
»Das Böse. Warum lässt dein Gott es zu? Er verhindert das Böse nicht, er beschränkt sich darauf, den Übeltäter auf ewig in der Hölle schmoren zu lassen. Warum verhindert er das Böse nicht? Hast du darauf eine Antwort?«
»Nein … Nun ja … Gott achtet den freien Willen des Menschen.«
»Das wollen dich die Priester glauben machen, weil sie raffiniert sind; in Wirklichkeit haben sie nämlich auch keine Erklärung dafür, warum Gott dem Bösen untätig zusieht.«
»Der Übeltäter wird bestraft.«
»Ja. Sehr spaßig: Nachdem er alle seine Übeltaten begangen hat.«
»Ich weiß es nicht, Adrià, verdammt, mit dir kann man nicht reden. Mir fehlen die Argumente, du weißt schon… Ich bin eben einfach gläubig.«
»Verzeih, ich will dich nicht … Aber du hast mit dem Thema angefangen.«
Eine Tür ging auf, hinter dem Fremdenführer trat ein Grüppchen Neugieriger ein, und die Besichtigung auf Französisch begann.
»Das Kloster von Bebenhausen, das wir nun besichtigen werden, wurde elfhundertachtzig von Rudolf I. von Tübingen gegründet und achtzehnhundertsechs säkularisiert.«
»Was bedeutet säkularisiert?« (Eine Frau mit granatrotem Mantel und dickrandiger Brille.)
»Das heißt, dass es nicht länger als Kloster diente.«
Schmeichelnd fuhr der Fremdenführer fort, er freue sich über ein kulturell interessiertes Publikum, das die Architektur des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts offenbar einem Glas Schnaps oder Bier vorziehe. Dann erzählte er, dass das Kloster im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts als Versammlungsort für verschiedene politische Gruppierungen gedient hatte, bis kürzlich beschlossen worden war, es vollständig wiederherzurichten, um den Besuchern ein realistisches Bild von dem Leben zu vermitteln, das einst in diesem Zisterzienserkloster geherrscht hatte. Noch in diesem Sommer beginnen die Restaurierungsarbeiten. Wenn Sie so freundlich wären, mir zu folgen, wir kommen nun zur ehemaligen Klosterkirche. Vorsicht auf den Stufen. Gut festhalten, Werteste, denn wenn Sie sich das Bein brechen, verpassen Sie meine hochinteressanten Erläuterungen. Fast alle Zuhörer schmunzelten.
Die verfrorenen Besucher betraten, sorgfältig auf die Stufen achtend, die Kirche.
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