Das Schweigen des Sammlers
Text nicht; völlig erschöpft von der Reise, schlief mein Freund ein, kaum dass er den Kopf aufs Kissen gelegt hatte, und ich dachte, während ich auf den Schlaf wartete, lieber über den Untergang des Römischen Reiches und den damit einhergehenden Zusammenprall der Kulturen nach und überlegte mir, ob so etwas im heutigen Europa auch noch möglich wäre. Aber plötzlich drängten sich Kornelia und Sara in meine angenehmen Gedanken, und ich wurde sehr traurig. Und ich traute mich nicht einmal, meinem besten Freund davon zu erzählen.
Schließlich fiel die Wahl auf Bebenhausen, weil Adrià seinen historischen Tag hatte und …
»Nein: Dein ganzes Leben ist historisch. Für dich ist alles Geschichte.«
»Die historischen Ereignisse sind nun mal die Erklärung für das heutige Geschehen. Und heute habe ich meinen historischen Tag, und wir fahren nach Bebenhausen, weil ich ja, wie du selbst gesagt hast, immer bestimme.«
Es war bitterkalt. Die armen Bäume an der Wilhelmstraßevor der Universität ertrugen, nackt und kahl, in Erwartung besserer Zeiten geduldig den Winter.
»Ich könnte hier nicht leben. Mir würden die Hände abfrieren, und dann könnte ich die Griffe …«
»Na, wenn du das Geigespielen sowieso sausen lässt, kannst du auch gleich hier bleiben.«
»Habe ich dir schon von Tecla erzählt?«
»Ja.« Adrià setzte sich in Trab. »Beeil dich, da ist unser Bus!«
Im Bus war es genauso kalt wie draußen, aber die Leute knöpften sich trotzdem den Mantelkragen auf. Bernat begann, sie hat zwei Grübchen, die sehen aus wie …
»Wie Bauchnabel, das hast du schon gesagt.«
»Hör mal, wenn es dir nicht recht ist, müssen wir nicht …«
»Hast du kein Foto von ihr dabei?«
»Nein, daran habe ich gar nicht gedacht.«
Bernat hatte kein Foto von Tecla dabei, weil er noch keines von ihr gemacht hatte. Er hatte nicht einmal einen Fotoapparat, und auch Tecla hatte keinen, aber das ist egal, ich kann sie dir immer wieder beschreiben, ohne dass es mir zu viel wird.
»Aber mir wird es zu viel.«
»Ich weiß nicht, warum ich überhaupt noch mit dir rede, wenn du immer so garstig bist.«
Adrià öffnete Bernats kostbare Mappe, nahm den Blätterstapel heraus und zeigte ihn ihm.
»Weil ich deine geistigen Ergüsse lese.«
»Hast du es etwa schon gelesen?«
»Noch nicht.«
Adrià las die Titelseite, blätterte aber nicht weiter. Bernat musterte ihn verstohlen. Der Bus fuhr durch ein enges Tal, aber keiner von ihnen hatte einen Blick übrig für die weiß bepuderten Tannen beiderseits der Landstraße. Zwei endlos scheinende Minuten geschah nichts, und Bernat dachte, wenn er sich schon so lange mit dem Titel beschäftigt, heißt das … Vielleicht findet er ihn bedeutungsvoll, vielleicht versetzt er ihn mitten in die Geschichte, wie mich, als ich die erste Seite geschrieben habe. Aber Adrià starrte die fünf Wörter des Titels an und dachte, ich weiß nicht, warum ichnicht zu ihr hingehen und sagen kann, vergiss es, Kornelia, es ist aus und vorbei, du hast dich benommen wie die letzte Schlampe, und von nun an werde ich mich auf meine Sehnsucht nach Sara konzentrieren. Aber er wusste genau, dass das nicht stimmte, denn sobald er vor Kornelia stünde, würde er dahinschmelzen, der Mund würde ihm offen stehen, und er würde tun, was sie verlangte, selbst wenn sie ihm sagte, er solle verschwinden, weil eine neue Erfahrung auf sie wartete, mein Gott, warum bin ich bloß so ein Schwächling.
»Und, gefällt er dir? Er ist gut, was?«
Adrià fuhr auf, aus seinen Gedanken gerissen: »He, wir sind ja schon da!«
Sie stiegen an der Landstraße aus. Vor ihnen lag, kalt und still, Bebenhausen. Eine weißhaarige Frau, die mit ihnen zusammen ausgestiegen war, lächelte sie an. In einer spontanen Eingebung bat Adrià sie, ein Foto von ihnen zu machen, mit meiner Kamera hier, sehen Sie? Die Frau stellte ihren Einkaufskorb ab, nahm den Fotoapparat und sagte, ja, natürlich, wo muss man drücken?
»Hier. Sehr freundlich, vielen Dank.«
Die beiden Freunde postierten sich so, dass im Hintergrund der unter einer unwirtlichen dünnen Eisdecke liegende Ort zu sehen war. Die Frau drückte auf den Auslöser und sagte, das war’s. Adrià nahm die Kamera und hob den Korb vom Boden auf. Er winkte der Frau zu, sie könne vorausgehen, er werde ihr den Korb tragen. Alle drei gingen bergan auf die Häuser zu.
»Vorsicht«, sagte sie Frau, »der vereiste Asphalt ist tückisch.«
»Was hat sie gesagt?«, fragte Bernat neugierig,
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