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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Erst drinnen bemerkte Bernat, dass Adrià fehlte. Während der Führer erklärte, in diesem Kirchenraum finden sich noch zahlreiche Elemente der Spätgotik wie etwa das Bogengewölbe über unseren Köpfen, schlich Bernat zurück in den Kreuzgang, wo er Adrià auf einem weiß beschneiten Stein sitzen und lesen sah … ja, er las tatsächlich seine Seiten! Ängstlich beobachtete er ihn. Schade, dass er keinen Fotoapparat hatte: Er hätte zu gern den Augenblick festgehalten, in dem Adrià, sein geistiger und intellektueller Mentor, der Mensch, dem er im Leben am meisten und am wenigsten vertraute, in die Literatur vertieft war, die er selbst aus dem Nichts erschaffen hatte. Einen Moment lang fühlte er sich so bedeutend, dass er die Kälte vergaß. Er ging in die Kirche zurück. Die Gruppe stand mittlerweile unter einem Fenster, das bei irgendeinem Anlass beschädigt worden war, und gerade fragte einer der Frierenden, wie viele Mönche zur Glanzzeit des Klosters hier gelebt hatten.
    »Im fünfzehnten Jahrhundert waren es an die hundert«, antwortete der Führer.
    Wie die Seiten meiner Erzählung, dachte Bernat. Und er stellte sich vor, dass sein Freund jetzt wahrscheinlich auf Seite sechzehn angelangt war, wo Elisa sagt, dass ihr nichts anderes übrig bleibt, als von zu Hause wegzugehen.
    »Aber wo willst du denn hin, dummes Kind?«, fragte Amadeu entsetzt.
    »Nenn mich nicht dummes Kind«, ereiferte sich Elisa und warf mit einem Ruck ihr langes Haar zurück.
    Wenn Elisa wütend war, bildeten sich in ihren Wangen Grübchen, die an kleine Bauchnabel erinnerten, und dieser Anblick brachte Amadeu stets um Rede und Verstand.
    »Wie bitte?«
    »Ich sagte, Sie dürfen hier nicht allein bleiben. Sie müssen sich der Gruppe anschließen.«
    »Kein Problem«, sagte Bernat, hob zum Zeichen seiner Unschuld die Arme und überließ seine Figuren Adriàs aufmerksamer Lektüre. Er folgte als Letzter der Gruppe, die gerade die Treppe hinabging, Vorsicht, bei dieser Witterung sind die Stufen spiegelglatt. Adrià saß noch immer im Kreuzgang und las, ungeachtet der Kälte, und für einen Augenblick war Bernat der glücklichste Mensch auf Erden.
    Er beschloss, noch einmal Eintritt zu zahlen und die Führung mit einer neuen Gruppe zu wiederholen. Im Kreuzgang saß reglos Adrià und las, er hob nicht einmal den Kopf. Und wenn er erfroren ist?, fragte sich Bernat erschrocken und merkte nicht, dass er dabei am meisten bedauern würde, dass ein erfrorener Adrià seine Erzählung nicht zu Ende lesen konnte. Er beobachtete ihn, während er hörte, wie der Führer, diesmal auf Deutsch, erklärte, das Kloster von Bebenhausen, das wir nun besichtigen werden, wurde elfhundertachtzig von Rudolf I. von Tübingen gegründet und achtzehnhundertsechs säkularisiert.
    »Was bedeutet säkularisiert?« (Ein großer, dünner junger Mann in einem leuchtend blauen Anorak.)
    Als der Führer bei dem Satz angekommen war, in diesem Kirchenraum finden sich noch zahlreiche Elemente der Spätgotik wie etwa das Bogengewölbe über unseren Köpfen, war Bernat schon an der Tür; er schlich sich in den Kreuzgang zurück und verbarg sich dort hinter einer Säule. Nein: Adrià war noch nicht erfroren, denn er blätterte gerade um, schüttelte sich kurz und las dann konzentriert weiter. Er musste sich beim Lesen Mühe geben, dass weder Sara noch Kornelia zuElisa wurden. Seite vierzig oder fünfundvierzig, schätzte Bernat, die Stelle, an der Elisa mit wehender Mähne den Hang von Cantó hinaufradelt; aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, kann ihr Haar ja wohl kaum wehen, wenn sie mühsam in die Pedale tritt. Da muss ich noch mal ran. Wenn sie bergab fahren würde, dann ginge es. Na gut, dann radelt sie eben mit wehender Mähne den Hang von Cantó hinunter. Es muss ihm ja wirklich gut gefallen, dass er nicht mal die Kälte spürt. Bernat schlich zu den Besuchern zurück, die in diesem Augenblick einträchtig die Köpfe hoben, um die Kassettendecke zu bewundern, ein Meisterwerk der Intarsienkunst, und eine Frau mit strohblondem Haar sagte, wunderbar, und sah Bernat an, als erwartete sie ein ästhetisches Urteil von ihm. In seiner Euphorie nickte Bernat drei, vier Mal, wagte aber nicht, wunderbar zu sagen, weil man ihm dann sofort angemerkt hätte, dass er kein Deutscher war, was ihm peinlich gewesen wäre. Die Frau mit dem strohblonden Haar gab sich mit Bernats wortloser Zustimmung zufrieden und sagte noch einmal, wunderbar, aber dieses Mal leiser, nur zu sich selbst.
    Bei

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