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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Seminar in Wien übergewechselt hatte und dort dank seiner intellektuellen Fähigkeiten auserwählt worden war, an der Pontificia Università Gregoriana Theologie und am Pontificio Istituto Biblico Bibelexegese zu studieren, weil die Kirche große Hoffnungen in ihn setzte, betrachtete eine gute Minute lang durch das Visier seines Nagant diesen widerlichen jungen SS-Offizier an der Spitze des Trupps, den es aufzuhalten galt, wie er mit siegesgewissem Blick den Hügel hinaufsah.
    Und dann ging der Zauber los. Einen Moment lang wirkten die Soldaten völlig überrascht von dem Widerstand, den sie so fern von Ljubljana nicht erwartet hatten. Kaltblütig verfolgte Gradnik durch das Zielfernrohr die Bewegungen seines Opfers und dachte, wenn du jetzt den Abzug drückst, Drago, bleibt dir der Zutritt zum Paradies für immer verwehrt. Du hast den Mann vor dir, den du schließlich wirst töten müssen. Der Schweiß lief ihm in die Augen, aber er ließ nicht zu, dass er ihm die Sicht nahm. Sein Entschluss war gefasst, und er durfte sein Opfer nicht aus dem Blick verlieren. Endlich hatten alle Soldaten ihre Waffen geladen, wussten aber nicht so recht, wohin sie zielen sollten. Dabei waren die Panzerwagen und ihre Insassen schon schwer getroffen.
    »Jetzt, Hochwürden!«
    Beide schossen gleichzeitig. Gradniks SS-Offizier stand direkt vor ihm, das Gewehr im Anschlag, und spähte immer noch suchend umher. Dann sank er plötzlich mit blutüberströmtem Gesicht gegen die Begrenzungsmauer hinter ihm und ließ das Gewehr fallen, reglos. Der junge SS-OffizierFranz Grübbe hatte keine Zeit mehr, an den Kampfesruhm, die neue Ordnung oder das glorreiche Morgen zu denken, das er den Überlebenden durch seinen Tod bescherte. Er konnte sich nicht mehr über die unbekannten Vögel wundern oder überlegen, woher die Schüsse kamen, weil ihm der halbe Schädel weggeschossen worden war. Und Gradnik erkannte, dass es ihm gleichgültig war, ob ihm das Paradies verwehrt blieb, weil er getan hatte, was er tun musste. Er lud sein Nagant nach und fegte mit dem Zielfernrohr über die feindlichen Linien hinweg. Ein SS-Leutnant schrie seinen Soldaten zu, sie sollten sich neu formieren. Gradnik zielte auf seinen Hals, damit er aufhörte zu schreien, und drückte ab. Dann lud er kaltblütig und ohne die Nerven zu verlieren erneut und erledigte ein paar weitere Unteroffiziere.
    Noch vor Sonnenuntergang war die Kolonne der Waffen-SS verschwunden und hatte ihre Toten und die zerstörten Fahrzeuge zurückgelassen. Wie die Geier schwärmten die Partisanen hügelabwärts aus, um die Leichen zu plündern. Von Zeit zu Zeit ertönte ein kalter Knall aus der Pistole des Kommandanten ohne Uniform, der mit einem harten Zug um den Mund den Verwundeten den Gnadenschuss versetzte.
    Die überlebenden Partisanen hatten strikte Anweisung, die Toten zu durchsuchen und Waffen, Munition, Stiefel und Lederjacken einzusammeln. Drago Gradnik ging, wie von einer geheimnisvollen Kraft angezogen, zu seinem ersten Toten hinüber. Es war ein junger Mann mit einem freundlichen Gesicht. Er lehnte noch immer an der Mauer und starrte Gradnik unter dem kaputten Helm aus blutigen Augen an. Er hatte keine Chance gehabt. Verzeih mir, mein Sohn, sagte Drago Gradnik. Er sah, wie Vlado Vladić mit zwei Kameraden die Erkennungsmarken einsammelte, um dem Feind die Identifizierung der Toten zu erschweren. Bei Gradniks Leiche angekommen, riss er auch ihr ohne zu zögern die Marke ab. Gradnik rief: »Warte! Gib sie mir!«
    »Hochwürden, wir müssen …«
    »Ich habe gesagt, du sollst sie mir geben!«
    Vladić zuckte mit den Achseln und gab ihm die Marke.
    »Ihr erster Toter, was?«
    Dann fuhr er mit seiner Arbeit fort. Drago Gradnik betrachtete die Marke. Franz Grübbe. Sein erster Toter war ein junger SS-Offizier namens Franz Grübbe. Einen Augenblick lang stellte er sich vor, wie er die Witwe oder die Eltern des Toten besuchte, um sie trösten und ihnen auf Knien zu gestehen, ich war’s, ich habe es getan. Dann steckte er die Marke in die Tasche.
    Wir standen immer noch vor dem Grab. Ich zuckte die Schultern und beharrte, lass uns zurückgehen, es ist verdammt kalt. Und Bernat antwortete, wie du willst, du bestimmst, das hast du mein Leben lang getan.
    »Du kannst mich mal.«
    Als wir, starr vor Kälte, über den Friedhofszaun zurück in die Welt sprangen, zerriss ich mir die Hose, und wir ließen die Toten mit ihren ewigen Geschichten einsam und kalt in der Dunkelheit zurück.
    Ich las Bernats

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