Das Schweigen des Sammlers
diesmal nicht. In dem Augenblick, alser die Soutane an den Nagel gehängt und sich einem aktiven Partisanenkommando angeschlossen hatte, um seinem Land zu dienen, wusste er, dass er im Irrtum war. Aber er konnte nichts anderes tun, denn vor ihm lag das Böse, sei es in Form von Pavelićs Ustascha, sei es die teuflische SS, und da musste die Theologie der tristen Notwendigkeit weichen. Sie erreichten Kransjka Gora, ohne einem einzigen Teufel begegnet zu sein, und der eine oder andere dachte schon, dass die Information vielleicht nicht besonders zuverlässig war; aber am Ortsausgang, auf der Landstraße nach Borovška, sagte ihnen ein Kommandant ohne Sterne, mit kroatischem Akzent und einem Zwanzig-Tage-Bart, dies ist die Stunde der Wahrheit; es wird ein Kampf auf Leben und Tod gegen die Nazis, und ihr Partisanen seid die Kämpfer für die Freiheit und gegen den Faschismus. Habt kein Erbarmen mit dem Feind, wie er kein Erbarmen mit seinen Feinden hatte und auch keines mit euch haben wird. Drago Gradnik hätte am liebsten hinzugefügt, von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen. Aber er verkniff es sich, weil der Kommandant ohne Sterne gerade erklärte, wie jede Gruppe von Verteidigern vorzugehen habe. Gradnik hatte Zeit zu denken, dass er zum ersten Mal in seinem Leben tatsächlich würde töten müssen.
»Und jetzt zack-zack den Hügel hinauf! Viel Glück!«
Der Großteil des Trupps, mit Maschinengewehren, Handgranaten und Mörsern ausgestattet, besetzte die sicheren Stellungen. Die Schützen wurden wie Adler an den höchsten Punkten postiert. Flink – mit Ausnahme von Hochwürden Gradnik, der schnaufte wie ein Wal – bezogen sie ihre Posten, jeder mit seinem Gewehr und nur dreizehn Ladestreifen ausgerüstet. Wenn euch die Kugeln ausgehen, nehmt Steine; und wenn sie in Reichweite kommen, erwürgt sie; aber sie dürfen nicht ins Dorf gelangen. Die besonders guten Schützen hatten ein Nagant mit Zielfernrohr zugeteilt bekommen. Und das bedeutete, er musste den Gegner ansehen, im Auge behalten, ihm folgen und ihn gewissermaßen kennenlernen, bevor er ihn tötete.
Als Drago Gradnik schon glaubte, an seinem eigenen Keuchen zu ersticken, half ihm eine Hand die letzte Stufe hinauf. Es war der Serbe Vlado Vladić, der dort oben kniete, auf die einsame letzte Kurve der Landstraße zielte und sagte, Korporal, wir müssen darauf achten, in Form zu bleiben. Über ihnen kreisten die aufgescheuchten Pirole und schrien, als wollten sie sie an die Deutschen verraten. Die beiden Männer schwiegen ein paar Minuten lang, während Gradnik Atem schöpfte.
»Was haben Sie vor dem Krieg gemacht, Korporal?«, fragte der serbische Partisan in schauderhaftem Slowenisch.
»Ich war Bäcker.«
»Wer’s glaubt. Sie waren Priester.«
»Warum fragst du mich, wenn du es doch weißt?«
»Ich möchte beichten, Hochwürden.«
»Ich bin im Krieg. Und ich bin kein Priester.«
»Doch, das sind Sie.«
»Nein. Ich habe mich gegen die Hoffnung versündigt. Ich bin derjenige, der beichten sollte. Ich habe die Soutane …«
Plötzlich verstummte er: Hinter der einsamen Kehre erschien ein kleiner Panzer, gefolgt von zwei, vier, acht, zehn, ach du heilige Scheiße, zwanzig oder dreißig oder auch tausend Panzerwagen voller Soldaten. Und dahinter drei oder vier Kompanien zu Fuß. Unbeeindruckt von Hass und Angst zeterten die Pirole weiter.
»Wenn’s gleich losgeht, Hochwürden, nehmen Sie den rechten Oberleutnant und ich den linken. Lassen Sie Ihren nicht eine Sekunde lang aus den Augen.«
»Den Großen, Schlanken?«
Jetzt sind wir wirklich dem Tode nah, dachte Gradnik mit angstvollem Herzen.
Als der ganze Tross vorbeigefahren war, sah der junge SS-Obersturmbannführer Franz Grübbe an der Spitze seiner Abteilung zu dem linken Hügel hinüber, über dem Vögel kreisten, die er nie zuvor gesehen hatte. Er blickte auf, allerdings nicht weit genug, um den Feind zu entdecken, weil er in Gedanken schon ganz bei dem glorreichen Moment war, indem ganz Europa dem Führer unterstehen und Deutschlands leuchtendem Vorbild folgen würde. Dabei wartete gerade auf dem linken Hügel eine Hundertschaft gut getarnter Partisanen auf das Zeichen des kroatischen Kommandanten – die erste Maschinengewehrsalve auf die Fahrzeuge. Und Drago Gradnik, geboren in Ljubljana am dreißigsten August achtzehnhunderfünfundneunzig, Schüler am Jesuitenkolleg seiner Heimatstadt, der beschlossen hatte, sein Leben Gott zu weihen, beseelt von seiner Frömmigkeit, an das bischöfliche
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