Das Schweigen des Sammlers
gefällst du mir!«, rief Adrià aus, und die Frau, die ihm gegenüber saß, dachte, laute Südländer, das sind bestimmt Türken. Die beiden schwiegen lange, doch allmählich helltesich Bernats Miene auf, und er wandte sich seinem Freund zu: »So gefalle ich dir? Was willst du denn damit sagen?«
»Wahre Kunst entsteht aus Enttäuschung. Wer glücklich ist, ist nicht kreativ.«
»Also, wenn das so ist, bin ich ein Wahnsinnskünstler.«
»He, vergiss nicht: Du bist verliebt.«
»Das stimmt. Aber mein Herz ist auch das Einzige, was funktioniert«, erklärte Bernat »Alles andere ist Mist.«
»Ich tausche auf der Stelle mit dir«, entgegnete Adrià aus tiefster Seele.
»Einverstanden. Schade, dass das nicht geht. Wir sind dazu verdammt, einander zu beneiden.«
»Was wohl die Frau uns gegenüber denkt?«
Bernat sah die Frau an, und diese starrte hartnäckig auf die Landschaft hinaus, die jetzt schon städtischer wurde, aber unverändert grau und verregnet war. Er war froh, endlich die eisige Miene ablegen zu können, die beizubehalten ziemlich anstrengend war, so beleidigt man auch sein mochte. Nachdenklich sagte er: »Ich weiß es nicht. Aber ich bin sicher, sie heißt Ursula.«
Ursula warf ihm einen kurzen Blick zu, öffnete ihre Tasche und schloss sie wieder, sicher aus Verlegenheit, dachte Bernat.
»Und sie hat einen Sohn in unserem Alter«, spann Adrià den Faden weiter.
»Vielleicht heißt sie ja auch Barbara.«
»Ja. Oder Ulrike.«
»Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich dich nicht besucht.«
»Wenn du was gewusst hättest?«
»Dass dir meine Erzählung nicht gefällt.«
»Schreib sie noch mal. Aber aus Amadeus Sicht.«
»Die Hauptfigur ist aber Elisa.«
»Sicher?«
Die beiden schwiegen. Nach einer Weile sagte Adrià: »Sieh es dir einfach noch mal an: Du erzählst das Ganze aus Amadeus Sicht und …«
»Schon gut, schon gut, ich schreibe sie neu. Einverstanden?«
Auf dem Bahnsteig umarmten sich Bernat und Adrià, und Frau Ursula dachte, das ist ja wohl die Höhe, diese Türken, und das am helllichten Tag, und dann ging sie zum Abschnitt B, der ein ganzes Stück weiter vorne lag.
Bernat, der mich immer noch umarmt hielt, sagte, danke, Arschloch, und das meine ich ehrlich.
»Das Arschloch oder das Danke?«
»Dass du mir das über die Unzufriedenheit gesagt hast.«
»Du bist mir jederzeit willkommen, Bernat.«
Dann mussten sie rennen, weil sie nicht beachtet hatten, dass sie in Abschnitt C hätten warten müssen. Frau Ursula, die schon im richtigen Abschnitt stand, sah sie vorbeirennen und dachte, mein Gott, es ist eine Schande.
Außer Atem stieg Bernat in den Waggon. Nach gut einer Minute sah ich ihn immer noch da stehen; er redete mit irgendjemandem, gestikulierte, rückte den Rucksack zurecht und zeigte seine Fahrkarte. Sollte ich einsteigen und ihm helfen oder ihn in Ruhe lassen? Ach was, er würde schon zurechtkommen. Nun beugte er sich vor, um durch das Fenster sehen zu können, und lächelte Adrià zu. Dann ließ er sich erschöpft in den Sitz plumpsen und sah wieder zu ihm hin. Wenn man am Bahnhof seinen besten Freund verabschiedet, sollte man gehen, sobald er eingestiegen ist, aber das hatte Adrià schon versäumt. Er lächelte zurück. Beide mussten den Blick abwenden. Sie sahen gleichzeitig auf die Uhr. Noch drei Minuten. Ich riss mich zusammen, winkte ihm zum Abschied, er rührte sich kaum, und ich ging fort, ohne mich noch einmal umzusehen. Noch am Bahnhof kaufte ich mir die Frankfurter Allgemeine Zeitung und überflog sie, während ich auf den Bus wartete, weil ich nicht über Bernats bittersüßen Blitzbesuch nachdenken wollte. Auf Seite zwölf stand über einer nur eine Kolumne breiten Kurznachricht: Psychiater in Bamberg ermordet. Bamberg? Bayern. Was zum Teufel trieb jemanden dazu, einen Psychiater zu ermorden?
»Herr Aribert Voigt?«
»Das bin ich.«
»Es tut mir leid, ich habe keinen Termin vereinbart.«
»Das macht nichts. Kommen Sie herein.«
Mit einer höflichen Geste ließ Doktor Voigt den Tod ein. Der Besucher nahm auf dem schlichten Stuhl im Wartezimmer Platz, und der Arzt sagte, ich bin gleich für Sie da, und verschwand im Behandlungsraum. Vom Wartezimmer aus konnte man hören, wie Papiere zusammengeschoben und Aktenschränke geöffnet und wieder geschlossen wurden. Schließlich steckte der Arzt den Kopf durch die Tür und bat den Tod in den Behandlungsraum. Der Besucher machte es sich auf dem Stuhl bequem, den der Arzt ihm wies, und dieser setzte sich
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