Das Schweigen des Sammlers
der vierten Führung trat der Fremdenführer, der Bernat schon seit geraumer Weile misstrauisch beobachtet hatte, im Kreuzgang nahe an ihn heran und sah ihm tief in die Augen, als könnte er in ihnen lesen, ob dieser stumme, einsame Tourist sich über ihn lustig machte oder vielmehr dem Zauber von Bebenhausen oder vielleicht sogar dem seiner Erläuterungen verfallen war. Bernat starrte hochinteressiert in das Faltblatt, das er vor lauter Nervosität schon ganz zerknüllt hatte, und der Führer schüttelte den Kopf, schnalzte mit der Zunge und sagte, das Kloster von Bebenhausen, das wir nun besichtigen werden, wurde elfhundertachtzig von Rudolf I. von Tübingen gegründet und achtzehnhundertsechs säkularisiert.
»Wunderbar. Was bedeutet säkularisiert?« (Eine hübsche junge Frau, eingemummt wie ein Eskimo und mit einer rot gefrorenen Nase).
Als die Besucher nach gebührender Bewunderung der Kassettendecken das Kloster verließen, vermutete der zwischen ihnen verborgene Bernat, dass Adrià jetzt schon etwa auf Seite achtzig sein musste, bei jener bewegenden Szene, in der Elisa das Wasser aus dem Teich lässt, sodass die zwölf Goldfische sterben, um so die beiden Jungen nicht körperlich, sondern seelisch zu strafen – die Überleitung zum überraschenden Ende, auf das er, bei aller Bescheidenheit, besonders stolz war.
Es war die letzte Besuchergruppe gewesen. Bernat blieb im Kreuzgang und beobachtete, nun ganz unverhohlen, Adrià, der gerade Seite einhundertdrei umblätterte, das Ganze dann zusammenfaltete und eine Zeitlang gedankenverloren auf die Buchsbaumhecken starrte. Dann stand er plötzlich auf, und mit einem Mal entdeckte ich Bernat, der mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck ansah und sagte, ich dachte schon, du wärst erfroren. Schweigend gingen wir hinaus, und Bernat fragte mich schüchtern, ob ich eine Führung hätte machen wollen, und ich antwortete, nicht nötig, ich kenne sie schon auswendig.
»Ich auch«, sagte er.
Draußen sagte ich ihm, ich bräuchte jetzt dringend einen heißen Tee.
»In Ordnung. Und, was sagst du?«
Adrià sah seinen Freund ratlos an. Der nickte mit dem Kinn zu dem Papierstapel in Adriàs behandschuhter Hand hin. Acht, zehn oder vielleicht auch tausend Sekunden verstrichen in beklommenem Schweigen, dann sagte Adrià, ohne Bernat in die Augen zu sehen, der Text ist furchtbar. Grauenhaft. Er hat keine Seele; ich fand kein einziges Gefühl glaubhaft geschildert. Ich kann dir nicht sagen, warum, aber es hat mir überhaupt nicht gefallen. Ich weiß nicht, wer Amadeu ist; aber was noch schlimmer ist: Es ist mir auch völlig egal. Von Elisa ganz zu schweigen.
»Das meinst du nicht ernst.« Bernat war so bleich, wie Mutter es gewesen war, als sie sagte, dein Vater ist jetzt im Himmel.
»Doch. Ich verstehe nicht, warum du dich darauf versteifst zu schreiben, wenn du doch mit der Musik …«
»Du bist ein Arschloch.«
»Du hättest ihn mir ja nicht zu lesen geben brauchen.«
Am nächsten Morgen saßen sie im Bus zum Stuttgarter Bahnhof, weil der Zug von Tübingen nach Stuttgart aus irgendwelchen Gründen ausgefallen war.
Beide starrten hinaus in die Landschaft, Bernat hartnäckig in feindseliges Schweigen gehüllt und mit einer seit dem lehrreichen Besuch in Bebenhausen sorgfältig gewahrten eisigen Miene.
»Du hast mal zu mir gesagt, seinen engsten Freund lügt man nicht an. Denk dran, Bernat, und hör auf, die beleidigte Leberwurst zu spielen, verdammt noch mal.«
Er sagte das laut, weil es einem ein wunderbares Gefühl von Freiheit und Abgeschiedenheit verleiht, in einem deutschen Bus Katalanisch zu sprechen.
»Entschuldigung, sprichst du mit mir?«
»Ja. Und du hast damals noch gesagt, dieser Drecksack von bestem Freund ist nicht imstande, mir die Wahrheit zu sagen, sondern benimmt sich lieber wie alle anderen auch, ach, das ist toll, Bernat, so wortgewaltig … Mir fehlt es an Schwung. Und du solltest mich nicht belügen. Lüg mich nie wieder an, Adrià, oder wir sind die längste Zeit Freunde gewesen. Erinnerst du dich an diese Worte? Das hast du gesagt. Und noch mehr: Du hast gesagt, ich weiß, dass du mir als Einziger die Wahrheit sagst.« Mit einem Seitenblick: »Und das werde ich immer tun, Bernat.« Dann blickte er nach vorn und fügte hinzu: »Wenn ich die Kraft dazu habe.«
Sie schwiegen, während der Bus einige neblig-feuchte Kilometer zurücklegte.
»Ich spiele, weil ich nicht schreiben kann«, sagte Bernat und starrte dabei aus dem Fenster.
»So
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