Das Schweigen des Sammlers
auf seinen Stuhl und fragte: »Was führt Sie her?«
»Ich bin gekommen, um Sie zu töten.«
Noch bevor Doktor Voigt sich rühren konnte, war der Besucher aufgestanden und hielt ihm eine Star an die Schläfe. Der Druck der Mündung war so stark, dass der Arzt den Kopf senken musste.
»Da ist nichts zu machen, Doktor. Sie wissen ja, der Tod kommt, wenn er kommt. Ohne Terminvereinbarung.«
»Sie sind wohl ein Dichter?«, fragte der Arzt, ohne den Kopf zu heben, während ihm der Schweiß ausbrach.
»Signor Falegnami, Herr Zimmermann, Doktor Voigt … Ich töte Sie im Namen der Opfer Ihrer unmenschlichen Versuche in Auschwitz.«
»Und wenn ich Ihnen sage, dass ich der Falsche bin?«
»Dann lache ich Ihnen ins Gesicht. Sagen Sie es lieber nicht.«
»Ich zahle Ihnen das Doppelte.«
»Ich töte Sie nicht des Geldes wegen.«
Stille. Dem Doktor rannen die Schweißtropfen inzwischen schon von der Nasenspitze. Der Tod schien etwas klarstellen zu wollen: »Ich töte für Geld. Aber nicht Sie. Voigt, Budden, Höß. Bei Höß sind wir zu spät gekommen. Sie und Budden werden von Ihren eigenen Opfern getötet.«
»Ich bitte um Vergebung.«
»Jetzt lache ich wirklich gleich.«
»Ich kann Ihnen verraten, wo Budden steckt.«
»Sieh an, ein Verräter. Schießen Sie los.«
»Wenn Sie mir dafür das Leben schenken.«
»Ihnen wird nichts geschenkt.«
Doktor Voigt unterdrückte ein Schluchzen, rang vergebens um Fassung, schloss die Augen und brach dann, in wütender Ohnmacht, doch in Tränen aus.
»Na los! Machen Sie schon Schluss!«, schrie er.
»Haben Sie es eilig? Ich nicht.«
»Was wollen Sie?«
»Wir machen jetzt ein Experiment mit Ihnen. Wie eines von denen, das Sie an Ihren Versuchskaninchen durchgeführt haben. Oder an Ihren Kindern.«
»Nein.«
»Doch.«
»Wer ist da?« Er wollte den Kopf heben, aber die Pistole hinderte ihn daran.
»Keine Sorge, das sind nur Freunde.« Der Besucher schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Los, her mit der Information über Budden.«
»Ich habe keine.«
»Ach! Wollen Sie ihn etwa retten?«
»Budden ist mir scheißegal. Ich bereue, was ich getan habe.«
»Heben Sie den Kopf«, sagte der Tod, packte ihn beim Kinn und riss seinen Kopf hoch. »Woran erinnern Sie sich?«
Vor ihm standen dunkle, schweigende Schemen, die eine klapprige Stellwand hielten. Daran hingen Fotos: die Männer mit den ausgestochenen Augen, ein weinender Junge mit Knien, die aufgeschnitten waren wie Granatäpfel, die Frau, bei der sie einen Kaiserschnitt ohne Betäubung durchgeführt hatten. Und zwei andere, an die er sich nicht erinnerte.
Wieder brach Doktor Voigt in Tränen aus, schrie Zeter und Mordio. Erst als der Schuss dröhnte, verstummte er.
»Psychiater in Bamberg ermordet. Doktor Aribert Voigt wurde in seiner Praxis im bayerischen Bamberg durch einen Kopfschuss getötet.« Das war neunzehnhundertzweiundsiebzig oder -dreiundsiebzig, ich weiß es nicht mehr genau, und ich war noch nicht lange in Tübingen. Aber ich erinneremich, dass ich in diesen langen eisigen Monaten wegen Kornelia litt. Von Voigt konnte ich nichts wissen, weil ich das Manuskript auf Aramäisch noch nicht gelesen hatte, nicht alles wusste, was ich jetzt weiß, und dir auch keinen Brief schreiben wollte. Zwei Wochen später hatte ich Examen. Und jeden Tag musste ich eine neue Erfahrung von Kornelia miterleben. Vielleicht habe ich die Zeitungsnotiz auch gar nicht gelesen, Sara. Aber in dieser Zeit wurde in Bamberg ein Psychiater umgebracht, und ich ahnte nicht, dass dieser Mann enger mit meinem Leben verknüpft war als Kornelia und ihre Geheimnisse. Wie seltsam ist doch das Leben, Sara.
26
Ich mache mir Vorwürfe, nicht genug geweint zu haben, als Mutter starb. Aber meine Aufmerksamkeit war völlig von der Auseinandersetzung mit meinem Idol Coseriu in Anspruch genommen, der kein gutes Haar an meinem Idol Chomsky ließ. Ich wusste schon, dass er uns nur provozieren wollte, aber an dem Tag, als er sich über Language and Mind mokierte, riss Adrià, der sowieso gerade einen kleinen Lebensüberdruss pflegte, der Geduldsfaden, und er sagte mit leiser Stimme auf Katalanisch, es reicht, Herr Professor, noch einmal brauchen Sie es nicht zu sagen. Coseriu sah mich über die ganze Länge des Tisches hinweg mit seinem fürchterlichsten Blick an, und die anderen elf Seminarteilnehmer verstummten.
»Was reicht?«, fragte er mich provozierend auf Deutsch zurück.
Feige, wie ich war, schwieg ich. Sein Blick und die Aussicht, vor
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