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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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so jung. Ja, sie ist heute Morgen gestorben; komm gleich, um der Liebe Gottes willen, Adrià.
    Ich verpasste zwei Sitzungen bei Coseriu für die Beerdigung – auf persönlichen Wunsch der Verstorbenen eine kirchliche Zeremonie –, bei der ich an der Seite einer gealterten, traurigen Tante Leo die Beileidsbekundungen entgegennahm. Xevi und Quico waren mit ihren Frauen gekommen, und Rosa entschuldigte sich, ihr Mann habe leider nicht kommen können, weil … Ich bitte dich, Rosa, du bist mir doch keine Erklärung schuldig. Cecília, die wie immer aussah wie aus dem Ei gepellt, kniff mich in die Wange, als wäre ich acht und trüge Sheriff Carson in meiner Hosentasche mit mir herum. Senyor Berenguers Augen schimmerten verdächtig, vor Trauer und Verlorenheit, wie ich dachte, bis ich herausfand, dass es unbändige Freude war. Ich nahm Lola Xica, die ganz hinten mit ein paar mir völlig unbekannten Damen zusammenstand, am Arm und führte sie zu der Familienbank, und sie brach in Tränen aus, und in diesem Augenblick begann ich, um die Verstorbene zu trauern. Es waren viele, sehr viele Leute da, die ich nicht kannte. Ich war überrascht, dass Mutter so viele Bekannte hatte. Und ich betete leise vor mich hin, Mutter, du bist gestorben, ohne mir zu sagen, warum ihr mir so fern wart, Vater und du; du bist gestorben, ohne mir zu sagen, warum ihr einander so fern wart; du bist gestorben, ohne mir zu sagen, warum du niemals ernsthafte Nachforschungen über Vaters Tod anstellen wolltest; du bist gestorben, Mutter, ohne mir zu sagen, warum du mich nie hast lieben können. So lautete mein stilles Gebet, weil ich ihr Testament noch nicht gelesen hatte.
    Adrià war seit Monaten nicht mehr in der Wohnung gewesen. Sie erschien ihm stiller denn je. Es fiel mir schwer, das Schlafzimmer der Eltern zu betreten. Es lag wie stets im Halbdunkel; das Bett war zerwühlt, die Matratze lag bloß; der Schrank, der Frisiertisch, der Spiegel – alles war genau so, wie es mein Leben lang gewesen war, nur ohne Vater und seine schlechte Laune, ohne Mutter und ihr Schweigen.
    Lola Xica saß am Küchentisch, noch in Trauerkleidung, und starrte ins Leere. Ohne sie zu fragen, kramte Adrià in denKüchenschränken, bis er alles für einen Tee beisammen hatte. Lola Xica war so mitgenommen, dass sie nicht aufstand und sagte, lass mal, Junge, sag mir, was du willst, und ich mache es dir. Nein, Lola Xica starrte die Wand und die Unendlichkeit hinter der Wand an.
    »Trink, das wird dir guttun.«
    Kraftlos nahm Lola Xica die Tasse und trank einen Schluck. Ich hatte das Gefühl, dass sie gar nicht merkte, was sie tat. Leise verließ ich die Küche. Lola Xicas Kummer bedrückte mich und rückte an die Stelle des fehlenden Schmerzes über den Tod meiner Mutter. Es war nicht so, dass Adrià nicht traurig gewesen wäre, aber der Schmerz überwältigte ihn nicht, und darum fühlte er sich schlecht; während ihn beim Tod seines Vaters Ängste und vor allem ein großes Schuldgefühl erfüllt hatten, fühlte er sich jetzt, als stünde er außerhalb dieses unerwarteten Todes, als ginge ihn dieser nichts an. Im Esszimmer zog er die Jalousien am Balkon hoch, um das Tageslicht hereinzulassen. Es fiel auf den Urgell an der Wand über der Anrichte, sodass es fast aussah, als käme das Licht aus dem Bild selbst. Der Glockengiebel des Klosters Santa Maria de Gerri de la Sal leuchtete rötlich im Licht der Abendsonne. Der dreistöckige Glockenturm mit den fünf Glocken, den er unzählige Male betrachtet und der ihm an den nicht enden wollenden, langweiligen Sonntagnachmittagen geholfen hatte zu träumen. Mitten auf der Brücke blieb er beeindruckt stehen, um ihn zu bewundern. Noch nie hatte er einen solchen Glockenturm gesehen, und nun verstand er, was diejenigen gemeint hatten, die ihm sagten, das Kloster, zu dem er unterwegs war, sei bis vor kurzem dank der Salinen reich und mächtig gewesen. Um es ungehindert betrachten zu können, musste er die Kapuze zurückschlagen, sodass die hinter Trespui untergehende Sonne seine edle, breite Stirn beschien wie den Glockenturm. Er vermutete, dass die Mönche um diese Zeit schon zu Abend aßen.
    Nachdem man sich vergewissert hatte, dass er kein Spion des Grafen war, wurde der Pilger mit der schlichten, umstandslosen Gastfreundschaft der Benediktiner aufgenommen.Er wurde direkt ins Refektorium geführt, wo die schweigende Bruderschaft ein frugales Mahl zu sich nahm und dabei der – in ziemlich dürftigem Latein vorgetragenen – Lesung

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