Das Schweigen des Sammlers
versammelter Mannschaft heruntergeputzt zu werden, schüchterten mich ein. Dabei hatte er mich einige Zeit zuvor noch beglückwünscht, als er mich bei der Lektüre von Mitul reintegrării überraschte. Eliade ist gut, wenn er denkt, hatte er gesagt, Sie tun gut daran, ihn zu lesen.
»Sie kommen nachher in mein Büro«, sagte er nun auf Rumänisch und noch leiser. Dann fuhr er mit dem Unterricht fort, als wäre nichts geschehen.
Erstaunlicherweise zitterten Adrià nicht die Knie, als er Coserius Büro betrat. Genau eine Woche zuvor hatte er mit Augusta Schluss gemacht, der Nachfolgerin von Kornelia, die ihm nicht die Gelegenheit gegeben hatte, Schluss zu machen, weil sie ohne ein klärendes Wort mit einer zwei Meter zehn großen Erfahrung verschwunden war, einem Basketballspieler, der gerade bei einem Verein in Stuttgart angeheuert hatte. Die Beziehung mit Augusta war ruhiger und weniger dramatisch verlaufen, aber nachdem sie sich ein paar Mal wegen Kleinigkeiten in die Haare geraten waren, hatte Adrià beschlossen, auf Distanz zu gehen. Stupiditates. Und nun war er schlecht gelaunt, und die Tatsache, dass er Coserius Blick fürchtete, beschämte ihn so sehr, dass mir schon allein darum nicht die Knie zitterten.
»Setzen Sie sich.«
Es wurde ein amüsantes Gespräch, denn Coseriu sprach Rumänisch und Adrià antwortete auf Katalanisch, ein wechselseitiges Kräftemessen, das schon in der dritten Unterrichtsstunde begonnen hatte, als Coseriu sagte, was ist denn hier los, wieso hat keiner eine Frage, und Adrià, der schon darauf gebrannt hatte, seine erste Frage nach der sprachlichen Immanenz stellte. Der Rest der Stunde war dann mit der Beantwortung seiner Frage vergangen, und er hatte zehnmal so viel erfahren, wie er gefragt hatte, und diese Antwort bewahre ich wie einen Schatz, weil sie das großzügige Geschenk eines genialen, wenn auch unausstehlichen Professors war.
Es wurde ein amüsantes Gespräch, weil sie sich bestens verstanden, obwohl jeder in seiner Muttersprache redete. Amüsant auch deshalb, weil beide übereinstimmten, dass der Unterricht des Meisters sie an die Abendmahlsszene von Santa Maria della Grazie erinnerte, Jesus mit seinen zwölf Jüngern, die alle an seinen Lippen hängen, ausgenommen Judas, der seine eigenen Pläne verfolgt.
»Und wer ist Judas?«
»Sie natürlich. Welche Fächer studieren Sie?«
»Alles Mögliche: Geschichte, Philosophie, ein bisschen Literatur und Linguistik, dies und das bei den Theologen, Griechisch, Hebräisch … Ich bin immer zwischen Brechtbau und Burse unterwegs.«
Stille. Nach einer Weile gestand Adrià, ich fühle mich sehr … sehr unbefriedigt, weil ich am liebsten alles studieren würde.
»Alles?«
»Alles.«
»Ich glaube, ich verstehe. Wie weit sind Sie mit dem Studium?«
»Wenn alles glattgeht, mache ich im September meinen Doktor.«
»Was ist das Thema Ihrer Promotion?«
»Vico.«
»Vico?«
»Vico.«
»Das gefällt mir.«
»Nun ja … ich … Ich meine immer, ich müsste noch etwas ergänzen oder überarbeiten … Ich komme einfach nicht zum Ende.«
»Wenn Sie das Abgabedatum wissen, werden Sie schon ein Ende finden.« Coseriu hob die Hand, wie er es immer tat, wenn er etwas Wichtiges zu sagen hatte: »Es freut mich, dass Sie ein bisschen frischen Wind in Vico bringen. Und hören Sie auf mich: Schreiben Sie noch mehr Doktorarbeiten.«
»Wenn ich noch länger in Tübingen bleiben kann, werde ich das tun.«
Aber ich konnte nicht länger in Tübingen bleiben, denn zu Hause fand ich ein Telegramm, aufgegeben von Lola Xicas zitternder Hand, Adrià, mein Junge. Stop. Deine Mutter ist tot. Stop. Und ich weinte nicht. Ich stellte mir das Leben ohne Mutter vor und erkannte, dass es sich nicht wesentlich von meinem bisherigen Leben unterscheiden würde, und so schrieb ich zurück, weine nicht, Lola Xica. Stop. Was ist passiert? Sie war doch nicht krank, oder?
Es ein bisschen peinlich, dass ich eine solche Frage stellen musste, aber ich hatte seit Monaten nichts von meiner Mutter gehört. Von Zeit zu Zeit hatten wir telefoniert, kurze, nüchterne Gespräche, wie geht’s, was machst du, arbeite nicht zu viel, pass auf dich auf. Was ist bloß an diesem Laden dran, dachte ich, dass alle, die dort arbeiten, an nichts anderes denken können.
Ja, sie war krank, mein Junge, seit ein paar Wochen schon; aber sie hatte uns verboten, dir Bescheid zu sagen, erst, wenn es ihr schlechter ginge, sollten wir … Und dann ging alles ganz schnell. Sie war noch
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