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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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verfasst, mit nur wenigen Randkorrekturen versehen und, wie Morral mir versicherte, aus der Feder von Jules stammend.
    »Verstehen Sie etwas von Literatur?«
    »Ich verkaufe alles Mögliche: Bücher, Sammelbildchen, Manuskripte und Bazooka-Kaugummis, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    »Aber wo zum Teufel nehmen Sie sie her?«
    »Die Kaugummis?«
    Morral war schlau genug, mir nicht zu verraten, wie er es anstellte. Sein Schweigen gewährleistete ihm Sicherheit und seine Unabdingbarkeit als Mittelsmann.
    Ich kaufte die Seiten der Brüder Goncourt. Und innerhalb weniger Wochen tauchten, als hätten sie nur auf mich gewartet, weitere Manuskripte auf, lose Seiten von Orwell, Huxley und Pavese. Und Adrià kaufte sie alle, seinen theoretischen Vorbehalten gegen das Kaufen um des Kaufens willen zum Trotz. Aber er konnte sich den achten Februar wer weiß welches Jahres von Il mestiere di vivere einfach nicht entgehen lassen, ein einzelnes Blatt, in dem Pavese von Guttusos Frauund von seiner Hoffnung schrieb, ebenfalls eine Frau zu finden, die auf dich wartet, neben dir schläft und dich wärmt, dir Gesellschaft leistet und dich zum Leben erweckt, meine Sara, die du nicht bei mir bist und niemals sein wirst. Wie hätte ich zu diesem Blatt nein sagen können? Und ich bin sicher, Morral bemerkte mein Zittern und legte den Preis danach fest, wie heftig es war. Außerdem: Wer kann schon dem Verlangen widerstehen, die Originale von Texten zu besitzen, die einen berühren? Das beschriebene Blatt Papier, der Schriftzug, der Schwung und die Tinte sind die materiellen Elemente, in denen die Idee Gestalt annimmt, zu einem Kunstwerk oder einem Werk universellen Denkens wird; zum Text, der den Leser durchdringt und ihn verändert. Zu diesem Wunder kann man einfach nicht nein sagen. Deshalb überlegte ich nicht lange, als Morral mir einen Mann vorstellte, von dem ich nicht einmal den Namen erfuhr, der aber für eine schwindelerregende Summe zwei Gedichte von Ungaretti zu verkaufen hatte: Soldati und San Martino del Carso , das Gedicht über ein vom Krieg und nicht vom Zahn der Zeit zerstörtes Dorf. È il mio cuore il paese più straziato – mein Herz ist das zerrissenste Land. Meines auch, lieber Ungaretti. Welch eine Melancholie, welch ein Kummer, welch eine Freude, das Papier zu besitzen, das der Autor benutzte, um aus seiner ersten Eingebung ein Kunstwerk zu machen. Ich bezahlte, was man von mir verlangte, fast ohne zu feilschen, und da hörte Adrià, wie jemand trocken auf den Boden spuckte, und sah sich um.
    »Was ist, Carson.«
    »Howgh. Ich will auch sprechen.«
    »Nur zu, sprecht euch aus.«
    »Wir haben ein Problem«, sagten beide gleichzeitig.
    »Was für eines?«
    »Siehst du es nicht?«
    »Ich will es nicht sehen.«
    »Hast du mal nachgerechnet, wie viel du in den letzten Jahren für Manuskripte ausgegeben hast?«
    »Ich liebe Sara, und sie hat mich verlassen, weil unsere Mütter uns betrogen haben.«
    »Dagegen kannst du nichts mehr tun. Sie hat ein neues Leben angefangen.«
    »Noch einen Whisky, bitte. Einen doppelten.«
    »Weißt du, wie viel du ausgegeben hast?«
    »Nein.«
    Man hörte das Summen eines Büro-Taschenrechners. Ich weiß nicht, ob es der tapfere Häuptling der Arapahos oder der wortkarge Cowboy war, der ihn bediente. Ein paar Sekunden herrschte Stille, dann verkündeten sie mir die skandalöse Summe, die …
    »Schon gut, schon gut, ich werde es nicht mehr tun, und Schluss. Zufrieden?«
    »Sehen Sie mal, Doktor«, sagte Morral ein paar Tage später. »Ein Nietzsche.«
    »Ein Nietzsche?«
    »Fünf Seiten aus Die Geburt der Tragödie . Was heißt das eigentlich?«
    Ich übersetzte es ihm ins Katalanische.
    »Dachte ich mir’s doch«, sagte Morral, der auf einem Zahnstocher herumkaute, weil er gerade vom Mittagessen kam.
    Anstatt den Titel als Warnung zu verstehen, unterzog ich die fünf Seiten eine gute Stunde lang einer gründlichen Prüfung, und als er fertig war, hob Adrià den Kopf und rief aus, wo zum Henker nehmen Sie das alles her? Zum ersten Mal antwortete Morral auf die Frage: »Kontakte.«
    »Aha, Kontakte …«
    »Ja, Kontakte. Wenn sich Käufer finden, schießen die Manuskripte wie Pilze aus dem Boden. Vor allem, wenn man die Echtheit der Ware schriftlich garantiert, wie wir es tun.«
    »Wer ist wir ?«
    »Sind Sie nun daran interessiert oder nicht?«
    »Wie viel?«
    »So viel.«
    »So viel?«
    »So viel.«
    »Verdammt.«
    Aber da war das Kribbeln, das mir die Fingerspitzen und den Verstand

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