Das Schweigen des Sammlers
Blick traurig geworden war. Und als er seine Geschichte beendet hatte, fügte er hinzu, und so ging ich bedrückt durchs Leben, weinte über meine Feigheit und suchte nach einer Möglichkeit, das Böse, das ich angerichtet hatte, wiedergutzumachen, bis ich auf die Idee kam, mich an einen Ort zu verkriechen, der der Erinnerung verwehrt wäre. Ich hatte das Bedürfnis, wieder mit Gott zu reden, und so versuchte ich, in einem Kartäuserkloster unterzukommen, wo man mir aber von meinem Vorhaben abriet. Von da an habe ich gelogen, und in den anderen beiden Klöstern, an deren Tür ich klopfte, habe ich nichts von den Gründen für meinen Schmerz erzählt und ihn nicht gezeigt. Bei jedem neuen Gespräch lernte ich dazu, was ich sagen durfte und was ich besser verschwieg, und als ich vor den Toren von Sankt Benedikt von Achel stand, wusste ich schon, dass niemand an meiner späten Berufung zweifeln würde, und so bat ich um Aufnahme und – wenn der Gehorsam es zulasse – darum, stets die niedersten Arbeiten im Kloster verrichten zu lassen. Seit diesem Tag spreche ich wieder mit Gott, wenn auch wenig, und habe gelernt, die Kühe dazu zu bewegen, dass sie mir zuhören.
Doktor Müss nahm seine Hand. So saßen sie schweigend, vielleicht zehn, zwanzig Minuten lang; dann ging Bruder Roberts Atem ruhiger, und er sagte, nach all den Jahren des Schweigens im Kloster ist die Erinnerung in meinem Kopf wieder explodiert.
»Ihr müsst damit rechnen, dass das von Zeit zu Zeit passiert, Bruder Robert.«
»Das kann ich nicht ertragen.«
»Doch das könnt Ihr; mit Gottes Hilfe.«
»Es gibt keinen Gott.«
»Ihr seid Trappistenmönch, Bruder Robert. Wollt Ihr mich schockieren?«
»Ich bitte Gott um Vergebung, aber ich verstehe seine Absichten nicht. Warum, wenn er der Gott der Liebe ist …«
»Ihr werdet es heil überstehen, weil Ihr wisst, dass Ihr niemals etwas so Böses getan habt wie das, was Eure Seele zerfrisst. Wie das, was man Euch angetan hat.«
»Nicht mir: Truu, Amelietje, der kleinen Julietje, meiner Berta und meiner kränklichen Schwiegermutter.«
»Ihr habt recht: Aber Euch hat man ebenfalls Böses getan. Der Mensch ist heldenhaft, der Böses mit Gutem vergilt.«
»Wenn ich diejenigen vor mir hätte, die …« Er schluchzte auf. »Ich weiß nicht, was ich dann tun würde, Bruder Eugen. Ich schwöre Euch, ich glaube nicht, dass ich fähig wäre, ihnen zu verzeihen …«
Bruder Eugen kritzelte etwas auf ein Stückchen Papier. Bruder Robert sah ihm in die Augen, und der andere erwiderte seinen Blick, wie in dem Moment, als Doktor Müss dem Journalisten sagte, er habe keine Zeit zu vergeuden, und dabei, ohne es zu wissen, ins Objektiv der versteckten Kamera schaute und diese mit dem gleichen Blick bedachte. Da verstand Matthias Alpaerts, dass er nach Bebenbeleke fahren musste, wo auch immer das lag, um den Blick wiederzufinden, der ihn beruhigen konnte, weil die Erinnerungen vor ein paar Tagen wieder einmal in seinem Kopf explodiert waren.
Das Erste, was man bei der Ankunft in Bebenbeleke feststellt, ist, dass es keine Ortschaft dieses Namens gibt. Nur das Krankenhaus heißt so, und das liegt mitten in der Wildnis, viele Meilen nördlich von Kikwit, viele Meilen südlich von Yumbu-Yumbu und ziemlich weit entfernt von Kikongo undBeleke. Rund um die Krankenstation haben Patienten Hütten errichtet, die in stillschweigendem Einverständnis von den Angehörigen der Kranken genutzt werden, die einige Tage auf der Station bleiben müssen. Nach und nach sind immer mehr Hütten dazu gekommen, und in einigen von ihnen leben inzwischen Menschen, die wenig oder nichts mit dem Krankenhaus zu tun haben und mit der Zeit das Dorf Bebenbeleke bilden werden. Doktor Müss hatte nichts dagegen einzuwenden, ebenso wenig wie die Hühner, die seelenruhig rund um das Krankenhaus nisteten und manchmal auch, obwohl es ihnen verboten war, im Krankenhaus selbst. Bebenbeleke ist ein Dorf der Schmerzen, denn einen halben Kilometer vom Krankenhaus entfernt in Richtung Djilo liegt hinter den weißen Felsen der Friedhof für die Patienten, die es nicht geschafft haben. Der Gradmesser für Doktor Müss’ Versagen.
»Ich habe den Orden wenige Monate später verlassen«, sagte Matthias Alpaerts. »Ich war eingetreten, weil ich glaubte, das wäre die Lösung, und bin wieder ausgetreten, weil ich sicher war, dass das die bessere Lösung sei. Aber ganz gleich, ob innerhalb oder außerhalb des Klosters, die Erinnerungen bleiben frisch.«
Doktor Müss
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