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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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setzte sich mit ihm auf die grüne Bank am Eingang und nahm seine Hand, wie er es dreißig Jahre zuvor im Behandlungszimmer der Klosters Mariawald getan hatte.
    »Danke, dass Ihr mir helfen wollt, Bruder Eugen«, sagte Matthias Alpaerts.
    »Es tut mir leid, dass ich Euch nicht besser habe helfen können.«
    »Ihr habt mir sehr geholfen, Bruder Eugen. Jetzt bin ich vorgewarnt, wenn die Erinnerungen explodieren, und kann mich ein bisschen besser dagegen wehren.«
    »Passiert Euch das oft?«
    »Öfter, als mir lieb ist, Bruder Eugen, weil …«
    »Nennt mich nicht Bruder: Ich bin kein Mönch mehr«, fiel ihm Doktor Müss ins Wort. »Kurz nach unserer Begegnung habe ich in Rom um Dispens gebeten.«
    Das Schweigen des ehemaligen Bruders Robert sprach Bände, und um es zu durchbrechen, erzählte ihm der ehemalige Bruder Eugen, er habe den Orden aus dem Wunsch heraus verlassen, Buße zu tun, und – möge Gott mir verzeihen – in der festen Überzeugung, dass ich nützlicher sein konnte, indem ich den Bedürftigen Gutes tat, als wenn ich mich einschloss und die Stundengebete befolgte.
    »Ich verstehe Euch.«
    »Das soll kein Vorbehalt gegen das Klosterleben sein. Nur habe ich das eben damals so empfunden, und meine Oberen haben das verstanden.«
    »Ihr seid ein Heiliger, dass Ihr hier mitten in der Einöde lebt.«
    »Das ist keine Einöde. Und ich bin kein Heiliger. Ich bin Arzt und ehemaliger Mönch und arbeite jetzt nur noch als Arzt, der versucht, Übel zu lindern.«
    »Ich werde vom Übel belauert.«
    »Ich weiß. Aber ich kann nur etwas gegen die körperlichen Übel ausrichten.«
    »Ich möchte bleiben und Euch helfen.«
    »Ihr seid zu alt. Seid Ihr nicht schon über siebzig?«
    »Das ist egal. Ich kann mich nützlich machen.«
    »Ausgeschlossen.«
    Bei dieser Antwort war Doktor Müss’ Tonfall plötzlich schroff, als hätte ihn der andere zutiefst beleidigt. Matthias Alpaerts’ Hände begannen zu zittern, und er steckte sie in die Taschen, damit der Arzt es nicht sah.
    »Seit wann zittern Eure Hände so?« Doktor Müss zeigte auf die versteckten Hände, und ein Hauch von Unwillen überflog Matthias Alpaerts’ Gesicht. Er streckte die Hände vor sich aus; sie zitterten heftig.
    »Das passiert, wenn meine Erinnerungen explodieren. Manchmal erscheint es mir selbst unmöglich, dass sie gegen meinen Willen so sehr zittern können.«
    »Mit diesem Zittern könnt Ihr mir nicht von Nutzen sein.«
    Matthias Alpaerts sah ihm in die Augen. Die Bemerkung war mehr als grausam gewesen.
    »Ich kann mich auf viele Arten nützlich machen«, sagte er gekränkt. »Ich kann zum Beispiel den Garten umgraben. Im Kloster von Achel habe ich Landwirtschaft betrieben.«
    »Bruder Robert … Matthias … Beharrt nicht darauf. Ihr müsst zurück nach Hause.«
    »Ich habe kein Zuhause. Hier kann ich mich nützlich machen.«
    »Nein.«
    »Ich akzeptiere kein Nein.«
    Doktor Müss nahm Matthias Alpaerts beim Arm und führte ihn zum Essen. Wie jeden Abend gab es als einzige Mahlzeit einen klebrigen Hirsebrei, den der Doktor auf einem kleinen Kocher erwärmte. Sie setzten sich ins Büro und benutzten den Schreibtisch des Doktors als Esstisch. Doktor Müss öffnete ein Schränkchen und nahm zwei Teller heraus, und Matthias Alpaerts sah, wie er etwas hinter ein paar Plastikbechern verbarg, was aussah wie ein schmutziger Lappen. Während sie lustlos aßen, legte der Doktor ihm dar, warum er unmöglich bleiben und ihm helfen konnte, nicht einmal als ungelernter Krankenpfleger, Gärtner oder Koch, und schon gar nicht als Landwirt, denn diese Erde trug nur Früchte, wenn man Blut schwitzte.
    Um Mitternacht – alles schlief bereits – zitterten Matthias Alpaerts’ Hände nicht, als er das Arbeitszimmer von Doktor Müss betrat. Er öffnete das Schränkchen unter dem Fenster und fand mit Hilfe einer kleinen Taschenlampe, was er suchte. Im schwachen, ungewissen Licht betrachtete er eine endlos scheinende Minute lang den Lappen. Eine endlos scheinende Minute lang war er nicht sicher, ob er ihn wirklich erkannte. Alles Zittern hatte sich in seinem Herzen gesammelt, das ihm die Brust zu sprengen drohte. Als er einen Hahn krähen hörte, entschied er sich und legte den Lappen an seinen Platz zurück. Er spürte ein Kribbeln in den Fingern, das gleiche Kribbeln, das Fèlix Ardèvol spürte und das ich allmählich zu spüren begann, wenn einem ein begehrtes Objekt unwiderruflich entgleitet. Ein Kribbeln und Zittern der Finger. Obwohl Matthias Alpaerts’

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