Das Schweigen des Sammlers
Krankheit eine andere war.
Er verließ die Krankenstation noch vor Sonnenaufgang mit dem Kleinlaster, der aus Kikongo Medizin und Lebensmittel und ein Tröpfchen Hoffnung für die Kranken in diesem weiten Land an den Ufern des Kwilu brachte.
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Traurig und verzagt kehrte ich aus Paris zurück. Damals hielt Adrià Ardèvol ein Seminar über die Geschichte zeitgenössischen Denkens und hatte unter den eher kritisch eingestellten Studenten großen Zulauf, obwohl er sich unter den Kollegen bereits einen Ruf als mürrischer-unsympathischer-und-eigenbrötlerischer-Gelehrter-der-nie-aber-auch-wirklich-nie-mit-den-anderen-einen-Kaffee-trinken-geht-und-sich-auch-nicht-bei-den-Konferenzen-blicken-lässt-weil-er-über-allem-steht erworben hatte. Und den relativen Ruhm, praktisch unbemerkt zwei schmale, reichlich provokante Bücher veröffentlicht zu haben, La revoluci ó francesa und Marx? , mit denen er die ersten Bewunderer und Widersacher um sich scharte. Die Tage in Paris hatten ihn in tiefe Niedergeschlagenheit gestürzt, und er hatte keine Lust, über Adorno zu reden, weil ihm eigentlich alles egal war.
Ich hatte nicht mehr an dich gedacht, Lola Xica, weil ich nur Sara im Sinn hatte. Bis mich irgendeine entfernte Verwandte anrief und sagte, meine Cousine ist gestorben und hat uns die Adressen der Leute hinterlassen, die wir benachrichtigen sollen. Sie sagte mir, wann und wo die Beerdigung stattfinde, und wir tauschten noch ein paar höfliche Beileidsbekundungen aus.
Bei der Beerdigung waren wir etwa zwanzig. Drei oder vier Gesichter erschienen mir vage vertraut, aber nicht bekannt genug, um sie begrüßen zu können, nicht einmal die entfernte Cousine. Dolors Carrió i Solegibert, »Lola Xica«, (1910-1982), geboren und gestorben in Barceloneta, Freundin meiner Mutter und eine herzensgute Frau, die mir in den Rücken gefallen ist, weil meine Mutter ihre einzig wahre Familie – und wahrscheinlich ihre Geliebte – war. Ich konnte mich nicht so herzlich von dir verabschieden, wie du es trotz allem verdient hättest.
»Schön und gut; aber wie lange ist es jetzt her, dass ihr euch getrennt habt, zwanzig Jahre?«
»Ach, woher denn, zwanzig Jahre! Und wir haben uns nicht getrennt: Wir wurden getrennt.«
»Sie ist garantiert schon Großmutter.«
»Warum, glaubst du wohl, habe ich mir keine andere Frau gesucht?«
»Keine Ahnung.«
»Dann sage ich’s dir: Weißt du, was ich jeden Tag, na ja, fast jeden Tag beim Schlafengehen denke?«
»Nein.«
»Ich denke, dass gleich die Türglocke läuten wird, ding dong.«
»Deine Türklingel macht rsrsrsrsrsrsrsrs.«
»Meinetwegen: rsrsrsrsrsrsrsrs, und ich mache auf, und es ist Sara, die mir erklärt, warum sie mich verlassen hat, und mich fragt, willst du mich wieder in dein Leben lassen, Adrià?«
»He, mein Lieber, nun wein doch nicht. Denk einfach nicht weiter drüber nach, ja? Siehst du? Ist doch vielleicht besser, oder?«
Adriàs ungewöhnlicher Gefühlsausbruch war Bernat unangenehm.
Er deutete auf den Schrank, Adrià zuckte mit den Schultern, was Bernat als in Ordnung, mach, was du willst, interpretierte, und so nahm er Vial heraus und schenkte ihm zwei Fantasien von Telemann, nach denen es mir gleich besserging, danke, Bernat, mein Freund.
»Wenn dir noch nach weinen zumute ist, tu dir keinen Zwang an, ja?«
»Danke für die Erlaubnis«, lächelte Adrià.
»Du bist ja fix und fertig.«
»Was mich fertig macht, ist, dass unsere Mütter unsere Liebe kaputt gemacht haben und wir beide ihnen komplett auf den Leim gegangen sind.«
»Nun gut. Eure Mütter sind tot, und du kannst weiter …«
»Was kann ich weiter?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe das nur gesagt, um …«
»Ich beneide dich um deine emotionale Beständigkeit.«
»Glaub das bloß nicht.«
»Doch, doch. Es läuft doch bestens mit dir und Tecla.«
»Ich habe Probleme mit Llorenç.«
»Wie alt ist er?«
»Es ist sein Widerspruchsgeist.«
»Will er nicht Geige lernen?«
»Woher weißt du das?«
»Das klingt mir doch sehr vertraut.«
Adrià überlegte eine Weile. Dann schüttelte er den Kopf und stellte fest: »Mir scheint, das Leben ist schlecht eingerichtet.«
Und am Sonntag stürzte er sich wie jemand, der sich dem Trunk ergibt, auf die Stände des Mercat de Sant Antoni, suchte Morral an seinem Stand auf, und dieser winkte ihm zu, ihm zu folgen. Diesmal waren es die ersten zehn Seiten aus dem Manuskript von Renée Mauperin der Brüder Goncourt, in einer gleichmäßigen Handschrift
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