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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Frauen, die es auf halber Strecke erwischt hatte, keine Deckung geboten hatte. Eine der Getroffenen war schwer verletzt, und als Arzt sah Du sofort, dass der Schuss ihr die Kehle zerfetzt hatte; und wie um ihm recht zu geben, hörte die Frau auf zu zucken und lag still in einem Bett aus Blut. Mea culpa.
    Und es geschah noch mehr, was er nur mir berichtet hat und was ich weder Rachel noch den Kindern jemals zu erzählen gewagt habe. Dass er die Nerven verlor und schrie, ihr Nazis seid allesamt Dreckschweine, und der am wenigsten Betrunkene lachte und zeigte auf die Jüngste unter den Überlebenden und sagte, entweder du hältst jetzt dein verdammtes Maul, oder ich knalle alle anderen ab, eine nach der anderen. Du verstummte. Und als sie in den Keller zurückkehrten, musste sich einer der Jäger übergeben, und ein Kollege sagte zu ihm, siehst du, ich habe dich gewarnt, das kommt davon, wenn man so viele süße Liköre durcheinandertrinkt, Idiot. Und dann mussten sie anscheinend ihr Freizeitvergnügen unterbrechen, und die Gefangenen blieben im dunklen Keller mit ihrem entsetzten Schluchzen allein. Von draußen drangen ärgerliches Gebrüll und lustlose Befehle herein, die Du nicht verstand. Wie sich herausstellte, begann am nächsten Tag die Evakuierung des Lagers, weil die Russen schneller näher rückten als angenommen. Im allgemeinen Aufruhr dachte niemand an die sechs oder sieben im Keller eingeschlossenen Hasen. Es lebe die Rote Armee, sagte Du auf Russisch, als er die Situation erkannte, und eine der Frauen verstand ihn und erzählte es den anderen Hasen. Und das Schluchzen verstummte und machte der Hoffnung Raum. Und so rettete Du sein Leben. Aber ich denke oft, dass sein Leben zu retten eine schlimmere Strafe ist als der Tod, verstehst du mich, Ardèvol? Darum bin ich Jude, nicht vonGeburt an, soviel ich weiß, sondern aus freien Stücken. Und seit jenem Tag wusste ich, dass ich auch Jude bin, Sara. Jude in Gedanken und aufgrund der Geschichte. Jude ohne Gott und mit dem Bedürfnis zu leben, ohne jemandem etwas Böses zu tun, wie Senyor Voltes, denn ich fürchte, es ist zu vermessen, leben zu wollen, um Gutes zu tun. Aber nicht einmal das ist mir gelungen.
    »Es wäre besser, wenn du meiner Tochter nichts von unserem Gespräch erzählst«, waren Senyor Voltes’ letzte Worte, als ich aus seinem Wagen stieg. Und deshalb habe ich dir bis heute, bis zu diesen Zeilen, nichts davon erzählt, Sara. Auch darin war ich dir untreu, dass ich dir das verschwiegen habe. Aber es tut mir sehr leid, dass ich Senyor Voltes nicht mehr lebend gesehen habe.
    Und wir lebten gerade mal zwei Monate zusammen, als mich Morral anrief und mir sagte, ich habe das Original von Der Oberst hat niemandem, der ihm schreibt.
    »Nein.«
    »Doch.«
    »Garantiert?«
    »Wollen Sie mich beleidigen, Senyor Ardèvol?«
    Mit ruhiger Stimme, als wäre nichts geschehen, sagte ich, ich muss mal kurz weg, Sara. Ganz hinten im Atelier tauchte Sara aus der Kindergeschichte vom lachenden Frosch auf und fragte, wohin gehst du?
    »Ins Ateneu.« (Ich schwöre, mir fiel nichts Besseres ein als zu sagen, ich wolle ins Ateneu.)
    »Ah.«
    »Ja, ich bin gleich zurück.«
    »Heute bist du dran mit dem Abendessen.«
    »Ja, ja, keine Sorge. Ich bin gleich zurück.«
    »Stimmt was nicht?«
    »Nein, wieso, was sollte denn nicht stimmen?«
    Adrià floh, ohne zu merken, dass er die Tür zu fest hinter sich zuschlug, wie es sein Vater viele Jahre zuvor getan hatte, als er sich mit dem Tod traf.
    In Morrals konspirativer Wohnung konnte ich das Manuskript begutachten. Es war großartig, etwas ganz Besonderes. Der letzte Teil war maschinengeschrieben, aber Morral versicherte mir, das sei bei den Manuskripten von García Márquez gang und gäbe. Was für ein Prachtstück.
    »Wie viel?«
    »So viel.«
    »Holla!«
    »Sie entscheiden.«
    »So viel.«
    »Da lachen ja die Hühner. Ich will offen mit Ihnen reden, Dr. Ardèvol. Der Erwerb dieses Manuskript war mit einem gewissen – wie soll ich sagen? – Risiko verbunden, und dieses Risiko schlägt sich im Preis nieder.«
    »Sie meinen, es ist gestohlen?«
    »Was für ein hässliches Wort … Ich versichere Ihnen, dass diese Papiere keinerlei Spur hinterlassen haben.«
    »So viel also.«
    »Nein: so viel.«
    »Einverstanden.«
    Solche Transaktionen werden nie per Scheck beglichen, und so musste ich voller Ungeduld bis zum nächsten Tag warten; in der Nacht träumte ich, dass García Márquez höchstpersönlich zu mir nach Hause kam

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