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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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nichts. Dabei bin ich sicher, dass du alles verstanden hattest, aber klug genug warst, es nicht aufs Tapet zu bringen. Und als du sagtest, ich muss mal was mit dir bereden, sah Adrià schon neues Unheil nahen; aber anstatt ihm ins Gesicht zu sagen, dass du alles wusstest, sagtest du, ich glaube, wir sollten uns einen anderen Bäcker suchen, dieses Brot ist zäh wie Kaugummi. Was meinst du?
    Dann kam eines Tags ein Anruf für Sara, und sie sprach leise in den Apparat im Esszimmer, und als ich nach ihr sah, bemerkte ich, dass sie still vor sich hin weinte, während ihre Hand noch auf dem Hörer lag, den sie aufgelegt hatte.
    »Was ist los?« Keine Antwort. »Sara?«
    Sie sah ihn geistesabwesend an. Dann zog sie die Hand vom Telefon weg, als ob es glühend heiß wäre.
    »Mama ist tot.«
    Mein Gott. Ich weiß nicht, warum, aber ich musste daran denken, wie mein Vater einmal gemurmelt hatte, langsam nähme es hier mit den Perlen überhand, und ich verstanden hatte, langsam nähme es mit dem Sterben überhand. Jetzt war ich erwachsen, aber es fiel mir immer noch schwer zu akzeptieren, dass im Lauf des Lebens ein Tod auf den anderen folgt.
    »Ich wusste gar nicht, dass …«
    Unter Tränen sah sie mich an.
    »Sie war nicht krank. Es kam ganz plötzlich. Ma pauvre maman …«
    Es machte mich wütend. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, Sara, aber es machte mich wütend, dass die Leute um mich herum starben. Wahrscheinlich bin ich einfach nicht fähig, das Leben zu akzeptieren. Deshalb habe ich mich vergebens und auf gefährliche Weise dagegen aufgelehnt, deshalb war ich dir untreu. Wie ein Dieb in der Nacht, wie der Tag des Herrn betrat ich die Synagoge und nahm diskret in einer der hinteren Bänke Patz. Ich sah deinen Vater zum ersten Mal seit jenem furchtbaren Tag, an dem ich deine Elternzur Rede gestellt hatte, nachdem du spurlos verschwunden warst und ich mich nur noch an meiner Verzweiflung festklammern konnte. Adrià konnte auch in Ruhe den Hinterkopf von Max bewundern, der ein ganzes Stück größer war als seine Schwester, etwa so groß wie Bernat. Und Sara, die eingezwängt zwischen den beiden Männern saß, und andere Angehörige, die ich nie kennenlernen werde, weil du es nicht willst, weil ich der Sohn meines Vaters bin und das Blut seiner Sünden über seine Kinder und Kindeskinder ausgegossen wird bis ins siebte Glied. Ich hätte gerne ein Kind mit dir, Sara, dachte ich, einfach so, bedingungslos. Aber ich wagte noch nicht, es dir zu sagen. Als du zu mir sagtest, es ist besser, du kommst nicht mit zur Beerdigung, erkannte Adrià, wie heftig der Abscheu war, den die Erinnerung an Fèlix Ardèvol bei den Epsteins hervorrief.
    Unterdessen blieben Laura und ich weiterhin auf Abstand zueinander, obwohl ich immer der Ansicht war, arme Laura, dass alles meine Schuld ist. Jedenfalls war ich sehr beruhigt, als sie mir im Kreuzgang über den Weg lief und sagte, ich gehe nach Uppsala, um dort meine Dissertation zu beenden. Und vielleicht bleibe ich für immer da.
    Ihr blauer Blick traf anklagend den meinen.
    »Ich wünsche dir viel Glück: Du hast es verdient.«
    »Dreckskerl.«
    »Viel Glück, ich meine es ernst, Laura.«
    Und dann verging mehr als ein Jahr, ohne dass ich sie sah oder an sie dachte, denn in dieser Zeit versickerte nach und nach der Kummer über den Tod von Senyora Voltes-Epstein. Du glaubst nicht, wie leid es mir tut, dass deine Mutter für mich immer nur Senyora Voltes-Epstein war. Ein paar Monate nach ihrem Tod verabredete ich mich mit Senyor Voltes in einem Café bei der Uni. Das habe ich dir nie erzählt, Liebste. Ich habe mich nicht getraut. Warum ich das getan habe? Weil ich nicht mein Vater bin. Weil ich an vielem die Schuld trage, aber – auch wenn es mir manchmal anders erscheint – auf keinen Fall daran, der Sohn meines Vaters zu sein.
    Sie gaben einander nicht die Hand. Stattdessen begrüßtensie einander mit einem Nicken. Beide nahmen schweigend Platz. Beide vermieden tunlichst, einander in die Augen zu sehen.
    »Herzliches Beileid zum Tod Ihrer Frau.«
    Senyor Voltes nickte dankbar. Sie bestellten zwei Tee und warteten darauf, dass der Kellner verschwand, um sich weiter anschweigen zu können.
    »Was willst du?«, fragte Senyor Voltes nach einer ganzen Weile.
    »Ich vermute mal, akzeptiert werden. Ich würde gerne zum Gedenktag für Onkel Chaim kommen.«
    Senyor Voltes warf ihm einen überraschten Blick zu. Adrià hatte den Tag nicht vergessen können, an dem sie sagte, ich fahre

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