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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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nach Cadaqués.
    »Ich komme mit.«
    »Ausgeschlossen.«
    Ich war enttäuscht; wieder war da diese Schranke zwischen uns.
    »Aber morgen ist weder Jom Kippur noch Chanukka, und es feiert auch niemand Bar Mitzwa.«
    »Es ist Onkel Chaims Todestag.«
    »Aha.«
    Die Religiosität der Voltes-Epsteins beschränkte sich auf gelegentliche Besuche der Synagoge im Carrer de l’Avenir am Sabat. Und Rosch ha-Schana oder Sukkot feierten sie hauptsächlich, um sich selbst zu bestätigen, dass sie Juden im Land der Gojim waren und das auch immer bleiben würden. Aber nicht weil … Mein Vater ist kein Jude, hatte mir Sara eines Tages erzählt, aber es ist, als wäre er einer; 1939 ist er ins Exil gegangen. Und dabei glaubt er an nichts; er sagt immer, es genügt ihm vollauf, wenn er möglichst niemandem etwas Böses tut.
    Nun saß Senyor Voltes vor Adrià und rührte mit einem Löffel in seinem Tee. Er sah Adrià in die Augen, und dieser fühlte sich gezwungen, etwas zu sagen, und sagte, Senyor Voltes, ich liebe Ihre Tochter wirklich. Da hörte Senyor Voltes auf, den Zucker umzurühren, und legte das Löffelchen leise an den Rand der Untertasse.
    »Hat dir Sara nie davon erzählt?«
    »Von ihrem Onkel?«
    »Ja.«
    »Ein bisschen.«
    »Was für ein bisschen?«
    »Nein, ich meinte … … dass ein Nazi ihn aus der Gaskammer holte, um sich von ihm untersuchen zu lassen.«
    »Onkel Chaim hat sich neunzehnhundertdreiundfünfzig das Leben genommen, und wir haben uns immer gefragt, warum, wo er doch alles überstanden hatte, wo er doch in Sicherheit und wieder bei seiner Familie war … bei den Überlebenden der Familie … Und um dieses Warums zu gedenken, möchten wir allein sein.« Und Adrià erwiderte mit der Vermessenheit dessen, der unerwartet ins Vertrauen gezogen wurde, dass Onkel Chaim sich vielleicht das Leben genommen hatte, weil er es nicht ertrug, überlebt zu haben, weil er sich schuldig fühlte, dass er am Leben geblieben war.
    »Sieh an, der Schlauberger. Hat er dir das vielleicht selbst erzählt? Hast du ihn kennengelernt?«
    Warum kannst du nie rechtzeitig die Klappe halten, verdammt.
    »Verzeihen Sie. Ich wollte Sie nicht beleidigen.«
    Senyor Voltes nahm den Löffel und rührte wieder in seinem Tee herum, wohl um besser nachdenken zu können. Als Adrià schon glaubte, das Gespräch sei beendet, sagte Senyor Voltes tonlos, als spräche er ein Gebet, als wären seine Worte schon Teil der Gedenkfeier für den toten Onkel: »Onkel Chaim war ein gebildeter Mann, ein anerkannter Arzt, der uns, als er nach Kriegsende aus Auschwitz zurückkehrte, nicht in die Augen sehen wollte. Er kam zu uns, weil wir seine einzige Familie waren. Er war Junggeselle. Sein Bruder, Saras Großvater, war neunzehnhundertdreiundvierzig in einem Viehwaggon gestorben. In einem Zug, den die Franzosen von Vichy auf den Weg gebracht hatten, um bei der ethnischen Säuberung der Welt zu helfen. Seine Schwägerin hatte die Schande nicht ertragen und war noch vor Beginnder Deportation im Gefängnis von Drancy gestorben. Und er kehrte viele Jahre später nach Paris zur einzigen Angehörigen zurück, die ihm noch geblieben war, zu seiner Nichte. Er hat nie wieder als Arzt praktizieren wollen. Und als wir geheiratet haben, haben wir ihn überredet, zu uns zu ziehen. Als Sara drei Jahre alt war, sagte Onkel Chaim zu Rachel, er gehe nur schnell ins Auberge, einen Pastis trinken, nahm Sara auf seinen Arm, gab ihr einen Kuss, gab auch Max, der damals im Kindergartenalter war, einen Kuss, setzte sich die Mütze auf und ging davon, das Andante der Siebten von Beethoven pfeifend. Eine halbe Stunde später erfuhren wir, dass er von der Pont Neuf in die Seine gesprungen war.«
    »Das tut mir sehr leid, Senyor Voltes.«
    »Und deshalb gedenken wir seiner. Wir gedenken all unserer Lieben, die durch die Shoah umgekommen sind. Und wir tun es an diesem Tag, weil es das einzige uns bekannte Todesdatum der vierzehn nahen Angehörigen ist, die im Namen einer neuen Weltordnung gnadenlos ausgelöscht wurden.«
    Senyor Voltes trank einen Schluck Tee und starrte vor sich hin, starrte Adrià an, ohne ihn wahrzunehmen, vielleicht weil er nur die Erinnerung an Onkel Chaim sah.
    Sie schwiegen lange Zeit, dann stand Senyor Voltes auf.
    »Ich muss gehen.«
    »Wie Sie meinen. Danke, dass Sie gekommen sind.«
    Sein Wagen stand direkt vor dem Café. Er öffnete die Autotür, zögerte ein paar Sekunden und bot ihm dann an: »Ich kann dich irgendwo absetzen.«
    »Nein, ich …«
    »Steig

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