Das Schweigen des Sammlers
verschwundenen SS-Obersturmführers Franz Grübbe zu Tage. Und dieser war, der einzigen glaubwürdigen Version zufolge, nämlich der des SS-Hauptsturmführers Timotheus Schaaf, ebenjener niederträchtige Überläufer, dem eine Division der Waffen-SS die schmähliche Niederlage beim Einmarsch in Kranjska Gora verdankte, denn kaum hatte Franz Grübbe die ersten Schüsse gehört, war er auf den Feind zugerannt, hatte die Arme hochgerissen und um Gnade gefleht. Ein SS-Mann, der eine kommunistische Freischärlerbande um Gnade anfleht. Damit war die Sache klar: Der hinterhältige Verräter war wieder aufgetaucht und hatte sich an der Vorbereitung zu einem heimtückischen Mordanschlag auf die Person des Reichsführers Heinrich Himmler beteiligt, denn um nichts Geringeres handelte es sich hier.
»Und wer ist dieser Grübbe?«
»Ein Verräter an unserem Vaterland, am Führer und an dem heiligen Eid, den er bei seinem Eintritt in die Schutzstaffel feierlich geschworen hat. SS-Hauptsturmführer Schaaf kann Ihnen weitere Einzelheiten nennen.«
»Sofort alle militärischen Ehren entziehen!«
Lothar Grübbe wurde telegraphisch in knappen, präzisen Worten über die Schandtat seines niederträchtigen Sohnes informiert, der versucht habe, seinen obersten Vorgesetzten, den Reichsführer, zu ermorden, aber beim Hantieren mit Sprengstoff in tausend niederträchtige Stücke zerfetzt worden sei. Man habe zwölf deutsche Verräter festgenommen, die der mittlerweile zerschlagenen Gruppe des niederträchtigen Juden Herbert Baum angehört hätten. Die Schmach wird Ihren niederträchtigen Sohn bedecken für die Dauer des Tausendjährigen Reiches.
Und Lothar Grübbe lächelte unter Tränen und sagte am Abend zu Anna, siehst du, Liebste, unser Sohn ist zur Vernunft gekommen. Ich wollte dich nicht damit belasten, aber dieser Scheiß-Hitler hatte unserem Franz den Kopf verdreht. Doch muss ihn irgendetwas zu der Einsicht gebracht haben, dass das ein Irrtum war. Wir sind Geächtete des Regimes, eine größere Freude kann man einem Grübbe gar nicht machen.
Um den tapferen kleinen Franz zu feiern, den Helden der Familie, den Einzigen, der die Courage gehabt hatte, der nationalsozialistischen Bestie die Stirn zu bieten, erinnerte er Günter Raue daran, dass der ihm noch einen Gefallen schuldete. Und Günter Raue wog das Für und Wider ab und sagte, ja, Lothar, mein Freund, aber unter einer Bedingung. Welcher? Seid um Himmels willen diskret. Und ich nenne dir die Summe, die du den Totengräbern als Trinkgeld geben solltest. Und Lothar Grübbe sagte, einverstanden, das scheint mir angemessen. Und fünf Tage später – als es hieß, an der Westfront würde es langsam schwierig, und niemand von dem Drama in Weißrussland sprach, wo mehrere Armeen wie vom Erdboden verschluckt worden waren – wurde auf dem stillen Tübinger Friedhof im Grab der Familie Grübbe-Landauin Anwesenheit eines traurigen Mannes und seiner Cousine Herta Landau von den Landaus aus Bebenhausen in einem leeren Sarg die Erinnerung an einen wackeren Helden beigesetzt, den wir, wenn bessere Zeiten kommen, mit Blumen ehren werden, so weiß wie seine Seele. Ich bin stolz auf unseren Sohn, der jetzt bei dir ist, liebste Anna. Und lange wird es nicht mehr dauern, bis auch ich zu euch komme, denn hier habe ich nichts mehr zu tun.
Es war dunkel geworden. Nachdenklich schlenderten sie über den Friedhof auf das noch immer offene Gittertor zu, sie fasste ihn bei der Hand, und schweigend gingen sie bis zu einer Laterne, die den Kiesweg beleuchtete, und dort sagte sie, ich glaube, es ist wahr, was Professor Schott gesagt hat.
»Er hat viel gesagt.«
»Nein, dass deine Geschichte des europäischen Denkens ein wirklich bedeutsames Werk ist.«
»Das weiß ich nicht. Ich hoffe es, aber wissen kann ich es nicht.«
»Es ist so«, beharrte Sara. »Außerdem liebe ich dich.«
»Also, mir spuken schon seit einiger Zeit andere Dinge durch den Kopf.«
»Welcher Art?«
»Ich weiß nicht. Die Geschichte des Bösen.«
Als sie den Friedhof verließen, sagte Adrià, das Problem ist, dass ich keinen rechten Standpunkt finde. Ich bin nicht fähig, es wirklich zu durchdenken. Mir fallen Beispiele ein, aber kein Grundgedanke, der …«
»Schreib du nur, ich bin ja bei dir.«
Ich schrieb weiter mit Sara an meiner Seite, und sie zeichnete mit mir an ihrer Seite. Es blieb uns wenig Zeit, zu wenig Zeit, einer an der Seite des anderen zu arbeiten, zu leben, uns mit unseren Ängsten zu versöhnen. Ich
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