Das Schweigen des Sammlers
neugierigen Studenten. Und Sara dachte, wie gut er aussieht in seinem neuen Sakko.
Es war die Weltpremiere für das Sakko, das zu kaufen sie ihn genötigt hatte, wenn er wollte, dass sie ihn zur Vorstellung seiner Geschichte des europäischen Denkens nach Tübingen begleitete. Und Adrià, auf dem Podium, Seite an Seite mit diesen illustren Rednern, sah zu ihr hin und sagte, Sara, Liebe meines Lebens, das ist ein Traum. Nicht Kameneks tiefschürfende, gewissenhafte und gefühlvolle Ansprache mit ihren feinen, diskreten Anspielungen auf persönlichere und subjektivere Aspekte; nicht Professor Schotts flammende Rede, in der er versicherte, Die Geschichte des europäischen Denkens sei eine großartige Reflexion, die an allen Universitäten Europas verbreitet werden müsse, deshalb meine Bitte an Sie, sie möglichst bald zu lesen. Nein, keine Bitte, vielmehr eine dringende Empfehlung! Nicht umsonst hat Professor Kamenek auf Isaiah Berlin und seine Personal Impressions (vid. supra) verwiesen. Zudem möchte ich, mit Ihrer Erlaubnis, Herr Professor Kamenek, auch noch Berlins ausdrückliche Bezugnahme auf Ardèvols Arbeit in seinem Gespräch mit Jahanbegloo und in der kanonischen Biographie Ignatieffs erwähnen. Nein, nichts davon ist das eigentliche Wunder, Sara. Auch nicht die Lesung, die sicher über eine Stunde dauern wird. Das ist es nicht, Sara. Sondern dich hier zu sehen, wie du mit deinem dunklen Pferdeschwanz auf dem Stuhl sitzt, auf dem ich selbst so oft gesessen habe, und mich ansiehst und ein Lächeln unterdrückst und denkst, dass ich gut aussehe in meinem neuen Sakko, nicht wahr, Herr Professor Ardèvol?
»Verzeihung, Herr Professor Schott?«
»Was halten Sie davon?«
Was ich davon halte? Du lieber Himmel.
»Die Liebe, die Sonne und Sterne bewegt.«
»Wie bitte?« Verwundert irrte der Blick des Professors durchs Publikum und richtete sich dann wieder ratlos auf Adrià.
»Ich bin verliebt und verliere schnell den Faden. Würden Sie Ihre Frage bitte noch einmal wiederholen?«
Die hundert Zuhörer wussten nicht, ob sie lachen oder ernst bleiben sollten. Sie schauten verwirrt um sich und lächelten verkrampft, bis Sara in schallendes Gelächter ausbrach und alle erleichtert einstimmten.
Professor Schott wiederholte seine Frage. Professor Ardèvol beantwortete sie präzise, viele Augen im Saal leuchteten gebannt, und das Leben ist herrlich, dachte ich. Anschließend las ich das dritte Kapitel, das persönlichste von allen, in demich schildere, wie ich die historische Natur der Erkenntnis entdeckte, noch ehe ich eine einzige Zeile von Vico gelesen hatte. Und meinen Schock, als mich Professor Roth, der leider nicht mehr unter uns weilt, auf Vico hinwies. Und während ich vorlas, musste ich immerzu daran denken, wie Adrià zwanzig Jahre zuvor nach Tübingen geflohen war, um über das plötzliche und unerklärliche Verschwinden Saras hinwegzukommen, die jetzt fröhlich lachend vor ihm saß; und wie er damals durch Tübingen gezogen war und Frauen aufgerissen hatte, wie in der Einführung schon sehr richtig angemerkt, und in jedem Mädchen, dem er an der Universität begegnete, Eigenschaften gesucht hatte, die ihn an Sara erinnerten. Und hier war sie nun, im Hörsaal 037, reifer und amüsiert schmunzelnd, als er das Buch zuklappte und sagte, in einem Buch wie diesem stecken viele Jahre Arbeit, und ich hoffe, bis ich mit dem nächsten beginne, vergehen noch viele, viele Jahre, Amen. Und die Anwesenden klopften begeistert mit den Fingerknöcheln auf die Tische. Und hinterher das Abendessen mit Professor Schott, der Dekanin Vartten, einem gerührten Kamenek und zwei einsilbigen, schüchternen Professorinnen. Eine der beiden, die kleinere, gestand flüsternd, sie sei sehr bewegt von dem menschlichen Bild, das Kamenek von Doktor Ardèvol gezeichnet habe, und Adrià pries Professor Kameneks Feinfühligkeit, sodass dieser, von so viel unerwartetem Lob in Verlegenheit gebracht, die Augen niederschlug. Nach dem Essen nahm Adrià Sara mit auf einen Spaziergang durch den Park, den im abnehmenden Licht des Tages ein unverkennbarer Hauch von Frühling durchwehte, und sie sagte ein ums andere Mal, wie schön ist das alles. Obwohl es so kalt ist.
»Es soll heute noch schneien.«
»Auch schön.«
»Immer wenn ich traurig war und an dich dachte, bin ich hier spazieren gegangen. Und über die Friedhofsmauer geklettert.«
»Kann man das?«
»Siehst du? Ich bin schon drüben.«
Ohne zu zögern stieg auch sie über die Mauer.
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