Das Schweigen des Sammlers
sprechen, bei dem er sich jedoch häufig ausweinte. Das Werk löste unter den französischen Intellektuellen Unbehagen aus, sie kehrten ihm den Rücken und vergaßen ihn schließlich. Darum ging sein nächstes Buch, Marx? (1980), sang- und klanglos unter, und in Katalonien erfuhren nicht einmal die letzten unverdrossenen Stalinisten etwas von seinem Erscheinen, weshalb sie es auch nicht verreißen konnten. Dank eines Besuchs bei ↑Lola Xica (Barceloneta, 1920-1982) gelang es ihm, seine geliebte Sara (vid. supra) wiederzufinden, und der Frieden kehrtein sein Leben zurück, abgesehen von vereinzelten Episoden mit Laura ↑Baylina (Barcelona, 1959?), von der er sich nicht auf anständige Weise hatte trennen können und die er sehr ungerecht behandelte, mea culpa, confiteor. Seit Jahren heißt es, er spiele mit dem Gedanken, eine Geschichte des Bösen zu schreiben, da er mit dem Thema aber weiterhin hadert, wird es noch dauern, bis er das Projekt in die Tat umsetzt, sofern er sich je dazu imstande sieht. Nachdem sein Seelenfrieden wiederhergestellt war, widmete er sich mit ganzer Kraft dem Buch, das er als sein bestes erachtet, Der ästhetische Wille (1987), und das Isaiah ↑Berlin (cf. Personal Impressions , Hogarth Press, 1980 [1998 2 , Pimlico]) zu Begeisterungsstürmen hinriss; und nach Jahren fieberhafter Arbeit krönte er sein Werk mit der beeindruckenden Geschichte des europäischen Denkens (1994), seinem größten internationalen Erfolg, der uns heute auch im Auditorium der Geisteswissenschaftlichen Fakultät dieser Universität zusammengeführt hat. Ich empfinde es als große Ehre, zu diesem Ereignis meine bescheidene Einleitung beitragen zu dürfen. Und es ist mir sehr schwer gefallen, mich nicht in persönlichen und subjektiven Erinnerungen zu verlieren, immerhin ist meine Beziehung zu Herrn Doktor Ardèvol vor vielen Jahren in den Fluren, Aulen und Büros dieser Universität entstanden, als ich meine Professur gerade erst angetreten hatte (auch ich war einmal jung, liebe Studenten!) und der Student Ardèvol ein ziemlich verzweifelter junger Mann war, der an Liebeskummer litt und die ersten Monate wild herummachte, bis er mit Kornelia ↑Brendel (Offenbach, 1948) eine äußerst komplizierte Beziehung einging, unter der er sehr litt, denn das Mädchen – das so hübsch, wie er meinte, nun auch wieder nicht war, zugegebenermaßen jedoch nach einer heißen Nummer aussah – war hartnäckig auf der Suche nach neuen Erfahrungen, was für einen mediterranen Heißsporn wie Doktor Ardèvol schwer auszuhalten war. Nun ja, für einen kühlen germanischen Quadratschädel vermutlich auch. Verraten Sie es ihm bitte nicht, weil er es mir sehr übel nehmen könnte, doch ich muss gestehen, dass auch meine Wenigkeit zu den neuen Erfahrungen der Brendel zählte. Um genau zu sein, gelüstete es die Brendel, die da bereits einen hünenhaften Basketballspieler, einen Eishockey spielenden Finnen und einen verlausten Künstler hinter sich hatte, nach einer anderen Art von Erfahrung, und sie fragte sich, wie es wohl wäre, einen Professor flachzulegen. Im Grunde war ich also nichts weiter als eine Jagdtrophäe, und in ihrem Schloss hängt jetzt mein Kopf mit dem Doktorhut über dem Kamin neben dem des Finnen mit seinem roten Helm. Genug, denn heute geht es nicht um mich, sondern um Doktor Ardèvol. Wie gesagt, die Affäre mit der Brendel war ein einziges Leiden, das er nur verwinden konnte, indem er sich in seine Studien flüchtete. Und dafür sollten wir dieser Kornelia Brendel am Neckar ein Denkmal errichten. Ardèvol beendete sein Studium in Tübingen mit einer Doktorarbeit über Vico, die ihm – auch wenn das hinreichend bekannt ist, sei hier noch einmal daran erinnert – große Anerkennung von Professor Eugen Coseriu einbrachte (vid. Eugenio-Coseriu-Archiv, Eberhard-Karls-Universität), der, bejahrt, aber scharfsinnig und energiegeladen, hier in der ersten Reihe sitzt, nervös mit dem Fuß wippt und dabei hochzufrieden aussieht. Doktor Ardèvols Dissertation ist einer der Texte, die in unserer Universitätsbibliothek von den Studenten der Ideengeschichte am häufigsten angefordert werden. Und jetzt höre ich auf, denn sonst findet mein Loblied nie ein Ende, und übergebe das Wort dem aufgeblasenen, hochnäsigen Professor Schott. Kamenek schob Professor Schott lächelnd das Mikrophon hin, zwinkerte Adrià zu und lehnte sich bequem zurück. Im Saal saßen etwa hundert Personen, eine interessante Mischung aus Professoren und
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