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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Fall, dass ihr euch trennt.«
    »Was ich traurig finde«, sagte Sara, »ist, dass du nicht einmal weißt, wie alt dein Sohn ist.«
    »Ich sage doch, siebzehn oder achtzehn.«
    »Siebzehn oder achtzehn?«
    »Also …«
    »Wann hat er Geburtstag?«
    Betretenes Schweigen. Aber wenn du dir einmal etwas in den Kopf gesetzt hattest, ließest du nicht locker:
    »Rechnen wir nach: In welchem Jahr ist er geboren?«
    Nach einigem Überlegen sagte Bernat, 1977.
    »Im Sommer, Herbst, Winter, Frühling?«
    »Im Sommer.«
    »Dann ist er siebzehn. Voilà.«
    Du sagtest nichts, aber du hättest einen Mann, der das Alter seines Sohnes nicht weiß, ebenso gut als Rabenvater beschimpfen und sagen können, arme Tecla, mit so einem zerstreuten Typen, bei dem sich immer alles nur um ihn selbst dreht, als wären alle anderen seine Dienstboten, oder etwas in der Art. Doch du schütteltest nur den Kopf und behieltest deine Kommentare für dich. Wir beendeten das Abendessen friedlich. Sara zog sich bald zurück und ließ uns allein, wodurch sie mich ermuntern wollte, ihn zum Sprechen zu bringen.
    »Trennt euch«, sagte ich zu ihm.
    »Es ist meine Schuld. Ich weiß nicht, wie alt mein Sohn ist.«
    »Hör auf. Ganz im Ernst, trenn dich von ihr und werd glücklich.«
    »Ich wäre nicht glücklich. Die Schuldgefühle würden mich auffressen.«
    »Schuldgefühle weswegen?«
    »Wegen allem. Was liest du?«
    »Lewis.«
    »Wer ist das?«
    »Clive Staples Lewis. Sehr weise.«
    »Ah.« Bernat blätterte in dem Buch und legte es auf den Tisch. Er sah Adrià an und sagte, ich liebe sie immer noch.
    »Und sie? Liebt sie dich auch?«
    »Ich glaube schon.«
    »Gut. Aber ihr tut euch gegenseitig weh, und ihr schadet Llorenç.«
    »Nein, ich … Ach, nicht so wichtig.«
    »Und darum flüchtest du von zu Hause?«
    Bernat setzte sich an den Tisch, bedeckte das Gesicht mit den Händen und begann zu weinen. Eine Weile wurde er von heftigem Schluchzen geschüttelt, und ich wusste nicht, was ich tun sollte, hingehen und ihn umarmen, ihm auf die Schulter klopfen oder ihm einen Witz erzählen. Ich unternahm gar nichts. Oder doch. Ich schob das Buch von C. S. Lewis beiseite, damit es nicht nass wurde. Manchmal verabscheue ich mich.
    Tecla öffnete und sah mich lange schweigend an. Dann bat sie mich herein und schloss die Tür.
    »Wie geht es ihm?«
    »Er ist durcheinander, am Boden zerstört. Und du?«
    »Durcheinander, am Boden zerstört. Willst du den Vermittler spielen?«
    Im Grunde hatten sich Adrià und Tecla noch nie viel zu sagen gehabt. Sie waren zu verschieden, ihr Blick war ihm zu unruhig. Und sie war sehr hübsch. Gelegentlich machte sie den Eindruck, als wäre es ihr unangenehm, so hübsch zu sein. Jetzt trug sie die Haare zu einem unordentlichen Schwanzzusammengebunden, und ich hätte sie knutschen mögen. Sie verschränkte abwartend die Arme und sah mir in die Augen, als forderte sie mich auf, endlich mit der Sprache herauszurücken und zu sagen, Bernat sei ein Häufchen Elend und flehe sie auf Knien an, wieder nach Hause kommen zu dürfen; er sehe ein, dass er unausstehlich sei, und werde sein Möglichstes tun, um …, und ja, ja, ich weiß ja, dass er die Wohnung verlassen und die Tür hinter sich zugeknallt hat, dass er gegangen ist und nicht du … Aber er bittet dich, er bettelt darum, zurückkehren zu dürfen, weil er ohne dich nicht leben kann, und …«
    »Ich wollte die Geige holen.«
    Tecla erstarrte für einen Moment und eilte dann den Flur entlang, ein wenig gekränkt, wie mir schien. Während sie davonging, konnte ich ihr gerade noch nachrufen, und die Partituren …, die in der dicken blauen Mappe.
    Sie kam mit der Geige und einer dicken Mappe zurück und legte beides mit übertriebenem Nachdruck auf den Esstisch. Sie war viel tiefer gekränkt, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Ich sah ein, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, mich irgendwie zu äußern, und beschränkte mich darauf, die Geige und die dicke Mappe an mich zu nehmen.
    »Mir tut das alles sehr leid«, sagte ich zum Abschied.
    »Mir auch«, sagte sie. Die Tür fiel ebenfalls ein wenig zu nachdrücklich ins Schloss. In diesem Moment kam Llorenç mit langen Sätzen die Treppe heraufgesprungen, eine Sporttasche über der Schulter. Ich schlüpfte in den Aufzug, bevor der Junge erkennen konnte, wer sich da so schamhaft verdrückte. Ich weiß, ich bin ein Feigling.
    Am nächsten Nachmittag übte Bernat, und nach langer Zeit erklang wieder eine Geige von Format in

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