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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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des Grauens die Gelassenheit und die Lebensfreude nicht verloren habe in diesem schlimmsten Jahrhundert der Menschheitsgeschichte. Denn es war mit Abstand das schlimmste. Und nicht nur für die Juden.«
    Er sah mich scheu an, zögernd, als suchte er nach dem richtigen Ausdruck, und setzte nach einer Weile hinzu, ich bin glücklich gewesen, habe aber immer mit den nagenden Schuldgefühlen des Überlebenden zu kämpfen gehabt.
    »Wie bitte?«, fragten Aline und Sara zugleich.
    Erst da bemerkte ich, dass er diese letzten Worte auf Russisch gemurmelt hatte, und übersetzte sie, ohne mich zu rühren, ohne den Blick von ihm zu wenden, denn Berlin war noch nicht fertig. Auf Englisch fuhr er fort, was habe ich getan, damit mir nichts geschehen ist? Er schüttelte den Kopf. Eine schwere Bürde, mit der die meisten Juden dieses Jahrhunderts leben müssen.
    »Ich glaube, das mussten die Juden früherer Jahrhunderte auch«, warf Sara ein.
    Berlin sah dich verblüfft an und nickte stumm. Und wie um die traurigen Gedanken abzuschütteln, erkundigte er sich nach Professor Adrià Ardèvols Veröffentlichungen. Offenbar hatte er die Geschichte des europäischen Denkens mit großem Interesse gelesen und fand es sehr gut, allerdings hielt er Der ästhetische Wille nach wie vor für ein ganz besonderes kleines Juwel.
    »Ich fasse es gar nicht, dass Sie das Buch überhaupt in die Hände bekommen haben.«
    »Oh, daran ist ein Freund von euch schuld. Weißt du noch, Aline? Diese beiden komischen Vögel, einer zwei Meter groß, der andere anderthalb …« Er sah geradeaus auf die Wand und erinnerte sich schmunzelnd. »Ein sonderbares Gespann.«
    »Isaiah …«
    »Sie wollten partout, dass ich es lese, und deshalb haben sie es mir gebracht.«
    »Isaiah, hast du Lust auf einen Tee?«
    »Ja, bitte …«
    »Möchtet ihr einen Tee?« Tante Alines Frage richtete sich jetzt an alle.
    »Welche Freunde von mir?«, fragte Adrià verwundert.
    »Ein Gunzbourg. Aline hat so viele Verwandte, dass ich sie manchmal durcheinanderwerfe.«
    »Gunzbourg …«, wiederholte Adrià verständnislos.
    »Moment mal …«
    Berlin stand schwerfällig auf und ging in eine Ecke des Raums. Ich sah Tante Aline und Sara einen Blick wechseln und fand das alles sehr merkwürdig. Berlin kam mit einem Exemplar meines Buches zurück. Mit Stolz bemerkte ich, dass fünf oder sechs Zettelchen zwischen den Seiten hervorragten. Er schlug es auf, nahm eins der Zettelchen heraus und las laut vor: Bernat Plensa aus Barcelona.
    »Ach so, ja, natürlich«, sagte Adrià geistesabwesend.
    Ich erinnere mich kaum noch an das weitere Gespräch, weil mir der Kopf schwirrte. Ein Dienstmädchen brachte auf einem großen Tablett alles, was man für eine wahrhaft königliche Teestunde brauchte. Wir sprachen noch über viele andere Dinge, an die ich mich nur vage erinnern kann. Welch ein Genuss, welch ein Luxus, diese kleine Unterhaltung mit Isaiah Berlin und Tante Aline …
    »Was weiß denn ich!«, gab Sara jedes der drei Male zurück, die Adrià auf der Rückfahrt fragte, ob sie wisse, was Bernat mit all dem zu tun habe. Und beim vierten Mal sagte sie, warum lädst du ihn nicht zu einer Tasse von diesem Tee ein, den wir gekauft haben?
    »Mmh, köstlich. Englischer Tee schmeckt einfach anders, findet ihr nicht?«
    »Freut mich, dass du ihn magst. Aber lenk nicht ab.«
    »Ich?«
    »Ja. Wann warst du bei Isaiah Berlin?«
    »Bei wem?«
    »Isaiah Berlin.«
    »Und wer soll das sein?«
    » Die Macht der Ideen . Über die Freiheit . Russische Denker .«
    »Wovon sprichst du überhaupt?« Und zu Sara gewandt: »Was ist denn mit Adrià los?« Dann hob er seine Tasse und sagte noch einmal: »Sehr gut, der Tee«, und kratzte sich am Kopf.
    » Der Igel und der Fuchs «, sagte Adrià, und es klang wie ein Zugeständnis ans große Publikum.
    »Du bist nicht mehr ganz dicht.« Zu Sara: »Ist er schon lange in diesem Zustand?«
    »Isaiah Berlin hat mir gesagt, du hättest ihm Der ästhetische Wille zu lesen gegeben.«
    »Was redest du da?«
    »Bernat, was ist hier los?«
    Adrià sah Sara an, die damit beschäftigt war, allen Tee nachzuschenken, obwohl keiner darum gebeten hatte.
    »Sara, was ist hier los?«
    »Wieso?«
    »Ihr verheimlicht mir doch etwas …« Plötzlich kam ihm ein Gedanke: »Du und ein sehr kleiner Kerl. Als ein komisches Gespann hat Berlin euch bezeichnet. Wer war der andere?«
    »Also, der Kerl ist wirklich nicht mehr ganz dicht. Ich war noch nie in Oxford, damit du es nur

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