Das Schweigen des Sammlers
erreichen.«
»Wer ist Aline?«
»Berlins Frau.« Sara blickte auf ihre unleserlichen Notizen: »Aline Elisabeth Yvonne de Gunzbourg.«
»Großartig, dann haben wir es ja!«
»Langsam, wir haben eine Kontaktperson. Aber die muss ja noch …«
Bernat riss ihr den Kalender aus der Hand.
»Wie, sagst du, heißt sie?«
Sie nahm ihm das Büchlein wieder ab und sah nach.
»Aline Elisabeth Yvonne de Gunzbourg.«
»Gunzbourg?«
»Ja, warum? Die Familie ist sehr … Halb Russen, halb Franzosen. Barone und so. Das sind wirklich reiche Leute.«
»Herrgott noch mal.«
»Psst, nicht fluchen.«
Bernat gab dir einen Kuss oder zwei oder drei oder vier, denn ich glaube, er war immer ein bisschen in dich verliebt. Jetzt, da ich deinen Einspruch nicht mehr fürchten muss, kann ich es dir ja ruhig sagen; ich glaube nämlich, jeder Mann war ein bisschen in dich verliebt. Ich war ganz und gar in dich verliebt.
»Aber Adrià muss das doch wissen!«
»Nein. Ich sage ja, es ist vollkommen verrückt.«
»Es ist vollkommen verrückt, aber er muss Bescheid wissen.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Es ist ein Geschenk, das ich ihm machen möchte. Und es scheint mir ein größeres Geschenk, wenn er es niemals erfährt.«
»Aber wenn er es nicht weiß, kann er dir doch niemals dankbar dafür sein.«
Und wahrscheinlich musste der Kellner am anderen Ende des Tresens ein Schmunzeln unterdrücken, als er den Mann laut werden und sagen hörte, keine Widerrede, Senyora Voltes-Epstein. Ich will es so. Kannst du es mir schwören?
Es folgten einige Sekunden gespannten Schweigens, dann sank der Mann flehend vor der Frau auf die Knie, und die elegante Frau schlug die Augen nieder und sagte:
»Ich schwöre es dir, Bernat.«
Der Kellner strich sich mit der Hand über die Glatze und kam zu dem Schluss, dass Verliebte sich immer zum Narren machten. Wenn die sich mit meinen Augen sehen könnten … Die Frau ist jedenfalls bildschön, erste Sahne, da gibt es nichts. Ich würde mich auch zum Narren machen, wenn sie mir gegenüber säße.
Zudem stellte sich auch noch heraus, dass Franz-Paul Deckers vorbildlicher Hornist, der schüchterne, kleine, blonde, heimlich Klavier spielende Romain Gunzbourg ein Sproß der Familie Gunzbourg war und Aline Elizabeth Yvonne de Gunzbourg selbstverständlich kannte. Romain entstammtedem armen Zweig der Familie, und wenn du willst, rufe ich Tante Aline auf der Stelle an.
»Was du nicht sagst … Tante Aline!«
»Ja. Sie hat einen Ich-weiß-nicht-was geheiratet, einen bedeutenden Philosophen oder so. Aber sie leben schon immer in England. Worum geht es denn?«
Und Bernat gab Romain rechts und links einen Kuss, obwohl er nicht in ihn verliebt war. Sein Plan bekam Rückenwind. Sie mussten sich noch bis zum Frühjahr gedulden, bis zu den Konzertauftritten der Osterwoche, und kurz zuvor führte Romain ein langes Telefongespräch mit seiner Tante Aline und gewann sie für Bernats Vorhaben. Und als sie zum Schlusskonzert ihrer kleinen Orchestertournee in London waren, nahmen sie einen Zug nach Oxford, wo sie am späten Vormittag eintrafen. Headington House wirkte verwaist, und die Türglocke hatte einen aristokratischen Klang. Sie wechselten einen erwartungsvollen Blick, aber niemand öffnete, obwohl sie sich für diese Uhrzeit angekündigt hatten. Nein. Doch, da, trippelnde Schritte. Und endlich ging die Tür auf. Eine elegante Dame sah sie erstaunt an.
»Tante Aline«, sagte Romain Gunzbourg.
»Romain?«
»Ja.«
»Wie groß du geworden bist!«, log sie. »Du gingst mir doch kaum bis hierher …« Sie zeigte auf die Höhe ihrer Taille. Dann besann sie sich auf ihre konspirative Rolle, die ihr sichtlich Spaß machte, und ließ die beiden ein.
»Er wird euch empfangen. Aber ich kann euch nicht garantieren, dass er es lesen wird.«
»Danke, Senyora. Vielen Dank«, sagte Bernat.
Sie standen in einem kleinen Empfangsraum mit gerahmten Bach-Partituren an den Wänden. Bernat wies mit dem Kinn auf eine davon. Romain trat neben ihn und sagte leise:
»Ich sage doch, dass ich zum armen Teil der Familie gehöre.« Und mit Blick auf die gerahmte Notenschrift fügte er hinzu: »Das ist bestimmt ein Original.«
Eine Tür öffnete sich, und Tante Aline führte sie in eingeräumiges Zimmer, dessen Wände vollständig von Büchern verdeckt waren, zehnmal so vielen wie bei Adrià. Außerdem gab es einen Tisch mit Stapeln dick gefüllter Mappen und Stößen von Büchern, aus denen zahlreiche Papierchen als Lesezeichen
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