Das Schweigen des Sammlers
lesen ich mir nicht verkneifen konnte, mea culpa, ja, aber Sara hatte ihn mir nicht gezeigt, und in dem Bericht hieß es, die Gebärmutter der Patientin Sara Voltes-Epstein, die eine einzige Schwangerschaft ausgetragen habe, sei trotz gelegentlicher Metrorrhagien ohne jeden Befund. Darum habe man die Entfernung des IUP verfügt, das mit großer Wahrscheinlichkeit die Ursache der Metrorrhagien darstelle. Und ich schlug verstohlen im Wörterbuch nach, wie damals, als ich Bordell und Schwuchtel gesucht hatte, und erinnerte mich, dass »metro« die präfigierte Form des griechischen Wortes mētra war, was Uterus bedeutet, und dass »rhagie« die suffigierte Form des griechischen Wortes rhēgnymi war, was strömen heißt. Strömender Uterus, das könnte der Name einer Verwandten von Schwarzer Adler sein, aber nein, es waren die Blutungen, die Sara so beunruhigten. Und er hatte vergessen, dass sie wegen dieser Blutungen die Ärztin aufsuchen wollte. Warum hat sie mir nichts davon gesagt? Und dann las Adriànoch einmal die Stelle, an der stand, sie habe nur eine einzige Schwangerschaft ausgetragen, und verstand den Grund ihrer Heimlichtuerei. Verflixt.
Und jetzt stand Adrià hinter ihr, völlig baff, trank ihren Tee und staunte über ihre Fähigkeit, aus nur zwei Dimensionen Welten mit Tiefe entstehen zu lassen, und ihren Tick, alle Geheimnisse für sich zu behalten.
Ein Feigenbaum; es sah aus wie ein Feigenbaum. An einer Ecke des Bauernhauses gab es jetzt einen Feigenbaum und ein an die Mauer gelehntes Wagenrad. Und Sara sagte, willst du mir den ganzen Tag im Nacken sitzen?
»Ich sehe dir gern beim Zeichnen zu.«
»Ich bin schüchtern und fühle mich gehemmt.«
»Was hat die Ärztin gesagt? Hattest du nicht heute deinen Termin?«
»Nichts, alles in Ordnung. Es geht mir gut.«
»Und die Blutungen?«
»Das ist das IUP. Sie hat es mir sicherheitshalber herausgenommen.«
»Kein Grund zur Sorge also.«
»Nein.«
»Dann müssen wir uns überlegen, wie wir es jetzt machen.«
Was heißt das, wenn die Ärztin sagt, deine Gebärmutter habe nur eine Schwangerschaft ausgetragen. Was, Sara? Red schon.
Sara wandte sich um und sah ihn an. Auf ihrer Stirn war ein kleiner Kohlefleck. Habe ich laut gedacht?, dachte Adrià leise. Sara schaute auf die Tasse, krauste die Nase und sagte, hey, du hast meinen Tee getrunken!
»Oh, entschuldige«, sagte Adrià. Und sie lachte dieses Lachen, das mich immer an einen plätschernden Bach erinnerte. Ich deutete auf das Blatt: »Wo soll das sein?«
»Nach dem, was du mir erzählst, könnte so Tona ausgesehen haben, als du klein warst.«
»Es ist wunderschön … Aber es sieht aus wie ein verlassenes Dorf.«
»Weil du irgendwann groß warst und es verlassen hast. Siehst du?« Sie zeigte auf den Weg. »Hier hast du dich dreckig gemacht und dir die Knie aufgeschlagen.«
»Ich liebe dich.«
»Ich dich mehr.«
Warum hast du mir nichts von dieser Schwangerschaft gesagt, wo doch ein Kind das Wichtigste auf der Welt ist? Lebt dein Kind? Ist es tot? Wie heißt es? Ist es tatsächlich zur Welt gekommen? War es ein Mädchen oder ein Junge? Wie war es? Natürlich musst du mir nicht alles erzählen, was dir im Leben widerfahren ist, aber es geht nicht an, dass du dein ganzes Leid für dich behältst, denn ich würde es gern mit dir teilen.
Rsrsrsrsrsrsrsrs.
»Ich mache auf«, sagte Adrià. »Wenn du mit der Zeichnung fertig bist, nehme ich mir eine halbe Stunde Zeit, sie zu betrachten.«
Als er dem Postboten öffnete, hielt er die leere Tasse noch in der Hand.
Zum Abendessen entkorkten sie von dem Wein, den Max ihnen hatte zukommen lassen, die Flasche, die am teuersten aussah. Sechs Flaschen Rotwein, alle von hoher Qualität, alle in dem von Max selbst herausgegebenen Büchlein beschrieben und mit Kommentaren zu seinen persönlich durchgeführten Weinproben versehen. Das Buch, luxuriös aufgemacht und mit erstklassigen Fotos, war eine Art Leitfaden zur Weinverkostung für den gehetzten Gaumen amerikanischer Feinschmecker.
»Den musst du aber aus dem Glas trinken.«
»Aus dem Porró macht es mehr Spaß.«
»Sara, wenn dein Bruder dahinterkommt, dass du seine Weine aus dem Porró trinkst …«
»Also schön. Aber nur zum Anstoßen.« Sie ergriff das Glas. »Was sagt Max denn über diesen?«
Mit ernster Miene füllte Adrià die Gläser, nahm eines beim Stiel und schickte sich an, feierlich den entsprechenden Text vorzutragen. Flüchtig dachte er an die Schule, andie wenigen Gelegenheiten, zu
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