Das Schweigen des Sammlers
ragten. Und an diesem Tisch saß in einem Sessel Isaiah Berlin mit einem Buch in der Hand und blickte den beiden Fremden, die in sein Heiligtum eingedrungen waren, neugierig entgegen.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte ihn Sara nach seiner Rückkehr.
Berlin wirkte müde. Er sprach wenig, und als Bernat ihm das Exemplar von Der ästhetische Wille überreichte, drehte und wendete er es, um es zunächst von außen zu begutachten, und schlug es dann beim Inhaltsverzeichnis auf. Eine endlose Minute lang war es mucksmäuschenstill. Tante Aline blinzelte ihrem Neffen spitzbübisch zu. Berlin klappte das Buch zu, behielt es aber in der Hand.
»Und warum, finden Sie, sollte ich das lesen?«
»Na ja … Wenn Sie nicht wollen …«
»Machen Sie jetzt keinen Rückzieher, junger Mann. Warum wollen Sie, dass ich es lese?«
»Weil es gut ist. Es ist sehr, sehr gut, Senyor Berlin. Adrià Ardèvol ist ein tiefsinniger und kluger Mann. Aber er lebt zu weit weg vom Zentrum der Welt.«
Isaiah Berlin legte das Buch auf den Tisch und sagte, ich lese jeden Tag und stelle jeden Tag fest, dass ich noch fast gar nichts gelesen habe. Mitunter lese ich etwas auch ein zweites Mal, aber nur Bücher, bei denen sich eine zweite Lektüre lohnt.
»Und wann lohnt die sich?«, fragte Bernat, als wäre er Adrià.
»Wenn ein Buch Faszinationskraft besitzt und man gebannt ist von seiner Intelligenz oder seiner Schönheit. Allerdings regt sich bei der zweiten Lektüre naturgemäß auch oft der Widerspruchsgeist.«
»Was willst du damit sagen, Isaiah?«, mischte sich Tante Aline ein.
»Ein Buch, das es nicht wert ist, noch einmal gelesen zuwerden, ist es eigentlich überhaupt nicht wert, gelesen zu werden.« Er schaute seine Gäste an. »Hast du ihnen einen Tee angeboten?« Dann blickte er auf Adriàs Buch und hatte seine praktische Anregung schon wieder vergessen, als er fortfuhr: »Aber bevor wir es gelesen haben, wissen wir nicht, ob es eine zweite Lektüre verdient. Das Leben ist grausam.«
Tee gab es nicht, denn Romain hatte seiner Tante zu verstehen gegeben, dass sie die kurze Zeit lieber nutzen wollten, und so plauderten sie noch eine Weile über alles Mögliche, während Bernat und Romain nebeneinander auf der Sofakante saßen. Schließlich unterhielten sie sich auch über die Orchestertournee.
»Horn? Und warum spielst du Horn?«
»Ich liebe den Klang«, antwortete Romain Gunzbourg.
Als sie ihm beim Abschied mitteilten, dass sie am Abend in der Royal Festival Hall spielen würden, versprach er, sich das Konzert im Radio anzuhören.
Das Programm bestand aus der Leonore (der Ouvertüre Nr. 3), der zweiten Symphonie von Robert Gerhard und der vierten von Bruckner mit Gunzbourg am Horn und einigen Dutzend anderen Musikern. Es klappte alles. Gerhards Witwe war anwesend und nahm gerührt den Blumenstrauß entgegen, der eigentlich Decker zugedacht war. Und nach fünf Konzerten waren sie ausgelaugt und geteilter Meinung darüber, ob es sich rentierte, während der Saison solche Minitourneen zu unternehmen, oder ob es gescheiter wäre, die kleinen Sommer-Engagements eines Großteils der Orchestermitglieder durch eine besser organisierte Tournee zu ergänzen, oder ob sie ganz auf Tourneen verzichten sollten, denn bei der Bezahlung tun wir schon genug, wenn wir zu den Proben erscheinen, oder vielleicht nicht?
Im Hotel fand Bernat eine dringende Nachricht vor und dachte schon, Llorenç sei etwas passiert. Es war das erste Mal, dass er sich Sorgen um seinen Sohn machte, denn er hatte immer noch das Bild des Jungen mit dem unausgepackten Buch vor Augen.
Es handelte sich um eine hastig hingekritzelte Telefonnotiz. In der Handschrift des Rezeptionisten der Abendschicht stand da, Isaiah Berlin habe angerufen und erwarte Bernat schnellstmöglich im Headington House, am besten gleich morgen, es sei äußerst wichtig.
»Tecla.«
»Wie war’s?«
»Gut. Poldi Feichtegger war auch da. Bewundernswert, sie ist weit über achtzig. Der Blumenstrauß war größer als sie selbst.«
»Ihr kommt doch morgen zurück, nicht wahr?«
»Na ja … ich muss noch einen Tag dranhängen, weil …«
»Weil was?«
Bernat, getreu seiner besonderen Eigenart, sich das Leben sauer zu machen, mochte Tecla nicht verraten, dass Isaiah Berlin mit ihm über mein Buch sprechen wollte, nachdem er es mit allergrößtem Interesse in einem Zug gelesen und schon wieder von vorn angefangen hatte, weil er die Gedanken darin so brillant und tiefgründig fand, dass er mich gern
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