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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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nur ein paarmal sechsundachtzig, sechsundachtzig, mehr fiel mir nicht ein, während wir in dem prachtvollen Salon der Voltes-Epsteins auf und ab gingen und Max mir wie ein untröstliches Kind vorkam, obwohl er mich um einen halben Kopf überragte. Ja, ja, Lektionen erteilen, das konnte ich. Wie leicht war es doch, anderen gute Ratschläge zu geben.
    Dieses Mal konnte ich die Familie zur Synagoge und zum Friedhof begleiten. Max erklärte mir, dass sein Vater nach jüdischem Ritus beerdigt werden wollte, und so wurde der Leichnam in das weiße Sterbegewand gehüllt, mit seinem Tallit bedeckt, dem Max auf Geheiß der Chewra Kadischa an einer Ecke die Schaufäden abschneiden musste, und auf dem jüdischen Friedhof von Les Corts in die Erde gelegt, an die Seite seiner Rachel, deiner Mutter, die zu lieben ich nie die Möglichkeit hatte. Wie traurig, Sara, dass alles so kommen musste, dachte ich, während der Rabbiner El malej Rachamim rezitierte. Und in der folgenden Stille traten Max undSara Hand in Hand nach vorne und beteten das Kaddisch für Pau Voltes, und ich begann still zu weinen.
    Sara verlebte diese Tage in tiefer Trauer, und die Fragen, die ich ihr stellen wollte, hatten keine Eile mehr, denn das, was uns bevorstand, sollte alles andere ausradieren.

44
    Headington House war so ruhig und schön gelegen wie Adrià erwartet hatte. Ehe Sara auf die Klingel drückte, sah sie ihn lächelnd an, und Adrià wusste, dass er das meistgeliebte Wesen der Welt war, und musste sich beherrschen, um sie nicht just in dem Moment abzuküssen, in dem ein Dienstmädchen die Tür aufmachte und gleich darauf die strahlende Gestalt Aline de Gunzbourgs erschien. Sara und ihre entfernte Tante umarmten sich schweigend wie alte Freundinnen, die sich seit Jahren nicht gesehen hatten; oder wie Kolleginnen, die trotz einer gewissen Rivalität tiefe Achtung voreinander empfanden; oder wie zwei gebildete Damen sehr unterschiedlichen Alters, die beruflich miteinander zu tun hatten und einen ausgesucht höflichen Umgang pflegten; oder wie Nichte und Tante, die sich noch nie im Leben begegnet waren; oder wie zwei Menschen, die wussten, dass sie um Haaresbreite dem langen Arm der Abwehr, der Gestapo und der SS entgangen waren, weil die Vorsehung sie zu bestimmten Zeiten von bestimmten Orten ferngehalten hatte. Denn das Böse trachtet danach, jedes Streben nach noch so bescheidenem Glück zu vereiteln, und setzt alles daran, die größtmögliche Verwüstung anzurichten. Spermien, Eizellen, frenetische Tänze, vorzeitige Tode, Reisen, Fluchten, Bekanntschaften, Illusionen, Zweifel, Zerwürfnisse, Versöhnungen, Umzüge und so viele andere Hindernisse, die dieses Wiedersehen hätten hintertreiben sollen, waren mit dieser herzlichen Umarmung zwischen zwei Unbekannten zunichte gemacht, zwei wunderbaren Frauen, einer sechsundvierzigjährigen und einer über siebzigjährigen, zwei sprachlos lächelnden Frauen in der Tür von Headington House.
    »Kommt rein.«
    Sie begrüßte mich, immer noch lächelnd. Wir drückten uns wortlos die Hand. Ja, im Eingangsbereich erfreuten zweigerahmte Bach-Partituren das Auge des Besuchers. Ich riss mich zusammen, und es gelang mir, Aline de Gunzbourgs Lächeln freundlich zu erwidern.
    Es wurden zwei unvergessliche Stunden in Isaiah Berlins Arbeitszimmer im Obergeschoss von Headington House, umgeben von Büchern, während die Uhr auf dem Kaminsims die Zeit viel zu schnell vergehen ließ. Berlin war sehr niedergeschlagen, als ahnte er, dass er sechs Monate später sterben würde. Er hörte Aline zu, lächelte fein und sagte, mir geht bald die Puste aus. Dann seid ihr es, die weitermachen müsst. Und leiser fuhr er fort, ich fürchte den Tod nicht, er ärgert mich nur. Er ist mir lästig, aber ich habe keine Angst vor ihm. Wo du bist, ist der Tod nicht, wo der Tod ist, bist du nicht. Angst vor ihm zu haben, ist also reine Zeitverschwendung. Und weil er so viel davon sprach, war ich sicher, dass er Angst vor dem Tod hatte, wahrscheinlich ebenso viel wie ich. Und dann fügte er noch hinzu, Wittgenstein habe gesagt, der Tod sei kein Ereignis des Lebens. Und Adrià kam es in den Sinn, ihn zu fragen, was ihn am Leben am meisten erstaunte.
    »Was mich erstaunt?« Er dachte nach. Es war, als käme das Ticken der Uhr von weit her und bemächtigte sich des Raumes und unserer Gedanken. »Was mich am meisten erstaunt …«, wiederholte er und antwortete schließlich: »… ist wahrscheinlich die simple Tatsache, dass ich trotz all

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