Das Schweigen des Sammlers
kennenlernen wollte. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihr das zu sagen. Aber Bernat muss sich das Leben sauer machen, sonst wäre er nicht Bernat. Er bezweifelte, dass Tecla ein Geheimnis bewahren konnte, worin ich durchaus seiner Meinung bin. Und darum zog er es vor zu schweigen und antwortete nur, er müsse unbedingt noch etwas erledigen.
»Was musst du denn erledigen?«
»Eine Sache. Es ist … es ist nicht leicht zu erklären.«
»Dich mit deinem Hornisten besaufen?«
»Nicht doch. Ich muss nach Oxford, weil … Es gibt da ein Buch, das … Sei’s drum, übermorgen bin ich wieder daheim.«
»Kannst du das Ticket umbuchen?«
»Oh, gut, dass du mich erinnerst!«
»Besser wäre es schon, wenn du vorhast, mit dem Flugzeug zurückzukommen. Wenn du überhaupt vorhast zurückzukommen.«
Und sie legte auf. Mist, dachte Bernat, ich habe es wieder mal vermurkst. Doch am nächsten Morgen buchte er seinenFlug um, fuhr mit dem Zug nach Oxford, wo Berlin ihm sagte, was er ihm zu sagen hatte, und ihm einen Brief für mich mitgab, in dem es hieß, lieber Herr Ardèvol, Ihr Buch hat mich sehr beeindruckt. Die ganze Abhandlung über die Frage nach dem Warum der Schönheit. Und dass sich diese Frage in jeder Epoche der Menschheitsgeschichte stellen lässt. Und Ihre Begründung, weshalb man sie von der unerklärbaren Existenz des Bösen unmöglich trennen kann. Ich habe es einigen meiner Kollegen bereits wärmstens empfohlen. Wann erscheint die englische Übersetzung? Herzliche Grüße, Isaiah Berlin. Ich bin Bernat sehr dankbar, dass er Berlin veranlasst hat, mein Buch zu lesen, denn das hatte weitreichende Folgen für mich, vor allem aber bin ich ihm dankbar für die Hartnäckigkeit, mit der er stets auf mein Wohlergehen bedacht war. Und ich vergelte es ihm, indem ich freiheraus über seine Texte spreche und ihn damit in tiefe Depressionen stürze. Alles nicht so einfach, mein Freund.
»Schwöre mir noch einmal, dass du es Adrià niemals sagen wirst.« Er sah sie durchdringend an. »Hast du mich verstanden, Sara?«
»Ich schwöre.« Und nach einer Weile: »Bernat.«
»Hmm?«
»Danke. In Adriàs Namen und in meinem.«
»Nichts zu danken. Ich bin Adrià eine Menge schuldig.«
»Was bist du ihm schuldig?«
»Ich weiß nicht. Eine Menge. Er ist mein Freund. Er ist … Obwohl er so gebildet ist, will er immer noch mein Freund sein und meine Krisen aushalten. Nach all den Jahren.«
45
Wissarion Grigorjewitsch Belinski war schuld, dass ich mich mit fünfzig Jahren an die Auffrischung meiner stark vernachlässigten Russischkenntnisse machte. Um mich von der fruchtlosen Auseinandersetzung mit dem Wesen des Bösen ein Stück zu entfernen, stürzte ich mich in das selbstmörderische Vorhaben, Berlin, Vico und Llull in einem Buch zusammenzuführen, und stellte mit Erstaunen fest, dass dies durchaus möglich war. Wie es bei unerwarteten Entdeckungen immer angebracht ist, hatte ich zunächst einige Schritte zurücktreten müssen, um sicherzugehen, dass es wirklich eine Eingebung und kein Hirngespinst war, und mich darum mehrere Tage lang mit den unterschiedlichsten Autoren beschäftigt, unter anderem auch mit Belinski. Dieser Gelehrte und glühende Bewunderer Puschkins war es, der eine unbezähmbare Lust in mir weckte, Russisch zu lesen. Und zwar Belinskis Schriften über Alexander Sergejewitsch Puschkin, nicht Puschkins Werk selbst. Und dabei begriff ich, wie in der Auseinandersetzung mit der Literatur anderer unversehens Literatur entstehen kann. Belinskis Begeisterung begeisterte mich so sehr, dass mich Puschkin erst richtig beeindruckte, als ich ihn nach der Lektüre von Belinski wieder zur Hand nahm und laut las. Ruslan, Ludmilla, Farlaf, Ratmir, Rodgai, Tschernomor und der Kopf erwachten zu neuem Leben, nachdem Belinski in mir gearbeitet hatte. Manchmal denke ich an die Macht, die der Kunst innewohnt, und erschrecke. Manchmal verstehe ich nicht, warum die Menschen aufeinander einschlagen, wo es doch so viel anderes zu tun gibt. Manchmal glaube ich, dass wir eher Übeltäter als Dichter sind, und dagegen ist kein Kraut gewachsen. Im Grunde hat niemand saubere Hände. Oder nur sehr wenige. Die allerwenigsten. Und dann kam Sara ins Zimmer, und Adrià brauchte den Blick nicht von den Versen zu heben, indenen Eifersucht, Liebe und die russische Sprache zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen, um den Glanz in Saras Augen wahrzunehmen. Er schaute auf.
»Und?«
Sie legte die Mappe mit den Musterporträts aufs Sofa.
»Wir
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