Das Schweigen des Sammlers
machen die Ausstellung«, sagte sie.
»Gratuliere!«
Adrià stand auf, riss sich ein wenig wehmütig von Ludmillas traurigem Schicksal los und umarmte Sara.
»Dreißig Porträts.«
»Wie viele hast du schon?«
»Achtundzwanzig.«
»Alles Kohlezeichnungen?«
»Ja, ja. Das wird das Leitmotiv. Mit dem Kohlestift in die Seele geschaut oder so ähnlich. Sie müssen noch einen schönen Titel finden.«
»Den sollen sie aber mit dir abstimmen. Nicht dass sie dir mit irgendetwas Blödsinnigem kommen.«
»Mit dem Kohlestift in die Seele geschaut ist nicht blödsinnig.«
»Nein, natürlich nicht. Aber Galeristen sind keine Lyriker. Und die von Artipèlag …« Er nickte zu den Mappen auf dem Sofa hinüber. »Ich freue mich für dich. Du hast es verdient.«
»Mir fehlen noch zwei Porträts.«
Ich wusste, dass du mich zeichnen wolltest. Die Vorstellung reizte mich nicht sonderlich, aber mir gefiel deine Begeisterung. In meinem Alter begreift man allmählich, dass es nicht auf das ankommt, was man tut, sondern auf den Enthusiasmus, mit dem man es tut. Das macht unsere Persönlichkeit aus. Und für Sara war dies ein außergewöhnlicher Moment in ihrem Leben, denn ihre Zeichnungen fanden zunehmend Anerkennung. Nur zweimal hatte ich sie gefragt, warum sie es nicht mit dem Malen versuchte, und beide Male hatte sie auf ihre sanfte, entschiedene Art geantwortet, nein, Adrià, ich liebe es, mit Bleistift und Kohle zu zeichnen. Mein Leben ist schwarz-weiß, vielleicht zum Andenken andie Meinen, die in Schwarz-Weiß gelebt haben. Oder vielleicht …
»Vielleicht brauchst du es auch gar nicht zu erklären.«
»Wahrscheinlich nicht.«
Beim Abendessen sagte ich zu ihr, ich wisse, welches Porträt ihr fehle, und sie fragte, welches denn?, und ich antwortete, ein Selbstbildnis. Die Gabel blieb auf halbem Weg in der Luft hängen, während Sara darüber nachdachte. Du warst überrascht, Sara. Darauf wärst du nicht gekommen. Nie denkst du an dich.
»Ich habe Hemmungen«, sagtest du nach einer langen Weile und schobst die Krokette in den Mund.
»Überwinde sie. Du bist alt genug.«
»Ist das nicht dünkelhaft?«
»Im Gegenteil. Es ist ein Zeichen von Bescheidenheit. Du zeigst die Nacktheit von neunundzwanzig Seelen und stellst dich selbst dem gleichen forschenden Blick, dem du die anderen unterworfen hast. Ich denke, damit sorgst du für Gerechtigkeit.«
Wieder schwebte deine Gabel in der Luft. Du legtest sie auf den Teller und sagtest, damit könntest du recht haben, weißt du? Und diesem Gespräch verdanke ich dein großartiges Selbstporträt, das heute vor mir an der Wand hängt und Seite an Seite mit den Inkunabeln meine Welt regiert. Es ist der kostbarste Schatz in diesem Raum. Dein Selbstporträt, das letzte Bild beim Gang durch die Ausstellung, die du so akribisch vorbereitet hattest und an deren Eröffnung du nicht teilnehmen konntest.
Für mich ist Saras Werk wie ein Fenster zu ihrem verschwiegenen Inneren. Eine Einladung zur Innenschau. Sara, ich liebe dich. Und ich erinnere mich, wie du über die Reihenfolge nachdachtest, in der deine dreißig Werke aufgehängt werden sollten, und verstohlen mit den ersten Entwürfen für dein Selbstbildnis begannst. Und Hut ab vor denen von Artipèlag: Sara Voltes-Epstein. Kohlezeichnungen. Fenster zur Seele . Der Katalog war so verlockend, dass man die Ausstellung keinesfallsversäumen wollte. Oder sie am liebsten komplett gekauft hätte. Ein reifes Werk, an dem du zwei Jahre gearbeitet hattest. Ohne Eile, in deinem natürlichen bedächtigen Rhythmus, in dem du immer alles tatest.
Das Selbstbildnis fiel ihr am schwersten, sie schloss sich in ihrem Atelier ein, weil sie keine Zeugen gebrauchen konnte, während sie sich im Spiegel betrachtete, auf das Papier sah und die Details ausarbeitete, die zarten Knitter um die Lippen, die von kleinen Fehlschlägen gegrabenen Furchen. Und die feinen Linien um die Augen, die dein Gesicht so unverkennbar zu Saras Gesicht machen. Und all die winzigen Zeichen, die ich nicht zu benennen vermag, die jedoch ein Gesicht – wie auch eine Geige – zu einer Landschaft werden lassen, an der sich die lange Winterreise in allen Einzelheiten, in schamloser Deutlichkeit ablesen lässt, mein Gott. Wie ein unerbittlicher Fahrtenschreiber das Leben eines Lastwagenfahrers festhält, so spiegelt dein Gesicht alle unsere gemeinsam vergossenen Tränen, deine Tränen ohne mich, von denen ich so wenig weiß, deine Tränen über das Unglück deiner Familie und der
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