Das Schweigen des Sammlers
von euch die Bibel gelesen, wenigstens ein einziges Mal?«
Weil er kein weiteres drückendes Schweigen zu ertragenbereit war, sagte er, wisst ihr was? Für heute werden wir es dabei belassen. Aber am Freitag bringt ihr mir einen Satz aus einem literarischen Werk mit, in dem es um diesen Topos geht.
»Herr Professor, was ist ein Topos?«
»Und bis Freitag habt ihr ein Gedicht gelesen. Und seid im Theater gewesen. Ich werde euch abfragen.«
Die verdutzten Gesichter seiner Studenten noch vor Augen, schreckte er auf. Und als er erkannte, dass es sich nicht um einen Traum, sondern um die Erinnerung an seine letzte Unterrichtsstunde gehandelt hatte, wäre er am liebsten in Tränen ausgebrochen. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass es das Klingeln des Telefons war, das ihn aus seinen trüben Gedanken gerissen hatte. Immer das vermaledeite Telefon.
Auf dem Tisch seines Arbeitszimmers stand der eingeschaltete Rechner. Nie hätte er das für möglich gehalten. Der Bildschirm warf sein bleiches Licht auf die Gesichter von Llorenç und Adrià, die beide aufmerksam darauf starrten.
»Siehst du?«
Llorenç bewegte die Maus, und der Cursor tanzte über den Bildschirm.
»Versuch du’s mal.«
Und Adrià klemmte die Zungenspitze zwischen die Zähne und bewegte den Cursor.
»Bist du Linkshänder?«
»Ja.«
»Warte. Ich stelle sie dir um.«
»Hör mal, ich brauche eine größere Unterlage, die ist viel zu klein.«
Llorenç kicherte in sich hinein, was Adrià nicht entging.
»Lach mich nicht aus. Es ist wahr, sie ist zu klein.«
Indem er die Maus ein paarmal hin und her bewegte, hatte er den Bogen bald heraus, und als Nächstes wurde Adrià Ardèvol in die Geheimnisse der Erstellung eines Dateiordners eingeweiht, was ihm eine endlos langwierige, ungewohnte,rätselhafte Angelegenheit schien. Das Telefon begann zu klingeln, doch Adrià überhörte es.
»Nein, ich sehe schon …«
»Was denn?«
»Es ist sicher sehr praktisch, aber mir ist das zu mühsam.«
»Und nachher muss ich dir noch das E-Mail-Programm erklären.«
»Uff, nein. Nein, nein …, ich muss arbeiten.«
»Es ist supereinfach. Und E-Mail ist fundamental.«
»Ich kann Briefe schreiben und habe einen Briefkasten unten am Haus. Und außerdem habe ich Telefon.«
»Vater sagt, du willst kein Handy.« Ungläubiger Blick. »Stimmt das?«
Das Telefon hatte sein sinnloses Läuten aufgegeben.
»Ich brauche keins. Ich habe ein wunderschönes Telefon zu Hause.«
»Und gehst nicht mal dran, wenn’s klingelt?«
»Nein«, sagte Adrià entschieden. »Du verschwendest deine Zeit. Zeig mir, wie man auf diesem Gerät schreibt und … Wie alt bist du?«
»Zwanzig.« Llorenç wies auf das Dialogfenster. »Hier siehst du, wo du den Text hinspeichern kannst, damit das, was du geschrieben hast, nicht weg ist.«
»Davor habe ich panische Angst … Siehst du? Papier verschwindet nicht einfach.«
»Man kann es verlieren. Es kann auch verbrennen.«
»Weißt du, dass ich dich kenne, seit du zwei Tage alt und noch in der Klinik warst?«
»Ach ja?«
»Dein Vater war ganz aus dem Häuschen vor Glück. Er war nicht auszuhalten.«
»Das ist er jetzt auch nicht.«
»Na ja, aber was ich sagen wollte …«
»Siehst du?« Llorenç deutete auf den Bildschirm. »So speicherst du ein Dokument ab.«
»Ich habe nicht gesehen, wie du das gemacht hast.«
»So, siehst du?«
»Das geht mir viel zu schnell.«
»Pass auf, du nimmst die Maus …«
Adrià nahm ängstlich die Maus, als fürchtete er, sie könnte beißen.
»Leg die Hand richtig drauf. So. Jetzt beweg den Cursor auf den kleinen Pfeil, wo ›Speichern unter‹ steht.«
»Warum sagst du, er sei nicht auszuhalten?«
»Wer?«
»Dein Vater.«
»Puuuh … Na ja …« Er hielt Adriàs Hand mitsamt der Maus fest. »Nein, nein, weiter links.«
»Da will sie nicht hin.«
»Schieb sie über das Pad.«
»Mann, das ist schwerer, als es aussieht.«
»Ach was. Du brauchst nur ein paar Minuten Übung. Jetzt klicken.«
»Was meinst du mit klicken?«
»Klick mit der Maus. So.«
»Mist! Was habe ich denn jetzt gemacht. Ui, es ist weg!«
»Gut …, noch mal von vorne.«
»Warum ist dein Vater nicht auszuhalten?« Eine Pause, in der Adrià angestrengt den Cursor bewegte. »Sag schon, Llorenç.«
»Na, darum.«
»Weil er dich zum Geigespielen zwingt.«
»Nein, das ist es nicht …«
»Nein?«
»Na ja, ein bisschen vielleicht.«
»Du hast keinen Spaß an der Geige.«
»Doch, schon.«
»In welchem Kurs bist
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