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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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klammerte sich immerzu an meine Hose und wich nicht von meiner Seite. Truu saß auf meinem Arm, und Juliet und Berta habe ich nie wiedergesehen, weil sie in einem anderen Waggon waren. Warum sollte ich Ihnen etwas vormachen, Senyor Ardefol? In einem anderen Waggon auf dem Weg in die Ungewissheit eines sicheren Todes. Denn wir wussten, dass wir in den Tod fuhren.
    »Papa, mir tut es hier hinten so weh.«
    Amelietje fasste sich in den Nacken. Ich setzte Trude ab und untersuchte Amelias Nacken. Eine beträchtliche Schwellung und eine Platzwunde, die sich zu entzünden begann. Ich konnte ihr nur einen hilflosen, zärtlichen Kuss darauf geben. Und die arme Kleine hörte sofort auf zu jammern. Ich nahm Truu wieder auf den Arm. Nach einer Weile nahm sie mein Gesicht in beide Hände, damit ich sie ansah, und sagte, Papa, ich hab Hunger, Papa, wann sind wir endlich da. Undich sagte zu Amelietje, du bist meine Große und musst mir helfen, und sie sagte, ja, Papa. Wieder ließ ich Truu auf den Boden hinunter und bat ihre Schwester um die Serviette. Mit einem Messer, das mir ein schweigsamer bärtiger Mann geliehen hatte, schnitt ich die Serviette sorgfältig in zwei gleiche Teile und gab jeder meiner Töchter eine Hälfte, und die arme Trude sagte nicht mehr, sie habe Hunger, und Amelietje und Truu standen nebeneinander, drückten sich an meine Beine und hielten stumm ihr Stück Serviette fest.
    Das Schlimmste war, zu wissen, dass wir selbst unsere Kinderchen an der Hand in den Tod führten; ich leistete Beihilfe zum Mord an meinen Töchtern, die meinen Hals und meine Beine umklammerten, während wir in dem eiskalten Waggon kaum noch Luft bekamen und niemand dem anderen in die Augen sah, weil alle von denselben Gedanken gequält wurden. Nur Amelietje und die kleine Truu hatten ein kariertes Stück Serviette ganz für sich allein. Und Matthias Alpaerts ging zum Tisch und legte die Hand auf den ordentlich gefalteten schmutzigen Lappen. Das ist alles, was mir von Amelias Geburtstag geblieben ist; meine älteste Tochter war gerade sieben Jahre alt geworden, als sie umgebracht wurde. Und Truu war fünf und Julieta zwei und Berta zweiunddreißig und Netje, meine kränkliche Schwiegermutter, war Anfang sechzig …
    Er ergriff den Lappen, betrachtete ihn innig und sagte, es scheint mir immer noch ein unbegreifliches Wunder, dass ich beide Hälften wiedergefunden habe. Wie ein Priester, der die Korporalien zurechtlegt, breitete er den Lappen wieder andächtig auf dem Tisch aus.
    »Senyor Alpaerts«, sagte ich mit leicht erhobener Stimme.
    Der alte Mann sah mich an, verwundert über die Unterbrechung, und schien für einen Augenblick nicht zu wissen, wo er war.
    »Wir sollten etwas essen.«
    Wir aßen in der Küche, als erforderte dieser Besuch keine Förmlichkeiten. Trotz seines Kummers griff Alpaerts mit Appetit zu. Neugierig schaute er sich das Ölkännchen an; ichzeigte ihm, wie man es benutzte, und er beträufelte das Gemüse mit Olivenöl. Nach diesem Erfolg holte ich den Porró, den ich seit deinem Tod nicht mehr benutzt hatte und aus Angst, ihn zu zerbrechen, an einem sicheren Platz aufbewahrte. Das habe ich dir, glaube ich, nie gesagt. Ich goss ein wenig Wein hinein, führte ihm vor, wie man daraus trank, und zum ersten und letzten Mal brach Matthias Alpaerts in herzhaftes Gelächter aus. Er trank aus dem Porró, bekleckerte sich, noch immer lachend, und sagte unvermittelt, bedankt, heer Ardefol. Vielleicht wollte er mir für dieses Lachen danken; ich mochte nicht nachfragen.
    Ich werde niemals wissen, ob Matthias Alpaerts das, was er mir erzählte, wirklich alles erlebt hatte. Im Grunde meines Herzen weiß ich es, aber vollkommene Gewissheit werde ich nie haben. Jedenfalls beugte ich mich einer Geschichte, die meinen Widerstand gebrochen hatte, denn ich dachte an dich und an das, was du dir gewünscht hättest, dass ich es täte.
    »Du hast dein Familienerbe verschleudert, mein Freund. Wenn ich dich überhaupt noch Freund nennen kann.«
    »Es ist doch meine Geige, warum regst du dich so auf?«
    Weil ich immer gedacht habe, du würdest mir die Geige vermachen, falls du vor mir stirbst.
    »Weil keineswegs klar ist, ob die Geschichte dieses Kerls wahr ist. Und auch wenn wir jetzt nie mehr Freunde sein können, zeige ich dir nachher, wie man mit dem Computer umgeht.«
    »Er sagte, wenn Sie durch das eine Schallloch schauen, mijnheer Ardefol, werden Sie sehen, dass dort Laurentius Storioni Cremonensis me fecit 1764 steht, und

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