Das Schweigen des Sammlers
daneben sind zwei Zeichen wie zwei kleine Sterne. Und unter Cremonensis ein ungleichmäßiger Strich, mal dicker, mal dünner, der vom M bis zum N geht. Wenn ich mich recht erinnere, denn es ist über fünfzig Jahre her.«
Adrià nahm die Geige und blickte hinein. Er hatte noch nie darauf geachtet, aber es stimmte. Dann sah er Matthias Alpaerts an, öffnete den Mund, machte ihn wieder zu und legte die Geige auf den Tisch.
»Ja, das stimmt«, bestätigte Bernat, »das weiß ich auch, aber darum gehört die Geige noch lange nicht mir. Bedauerlicherweise.«
Adrià legte die Geige wieder auf den Tisch. Jetzt musste er eine Entscheidung treffen. In meinem tiefsten Inneren weiß ich, dass es mir so schwer gar nicht fiel. Trotzdem dauerte es noch zwei Stunden, bis wir uns verabschiedeten. Ich gab ihm den Originalkasten mit dem dunklen Fleck, der mit nichts zu entfernen war.
»Du bist ein ausgemachter Schwachkopf.«
»Es ist dieser entsetzliche Schmerz, der Matthias Alpaerts hat weiterleben lassen, als sei an dem Tag, an dem er alles verlor, die Zeit stehengeblieben. Dieser Schmerz war es, der mich zum Nachgeben bewogen hat.«
»Seine Geschichte hat dich dazu bewogen. Besser gesagt, die Geschichte, die er dir erzählt hat.«
»Vielleicht. Und?«
Mit den Fingerspitzen streichelte der Mann zart über die Decke der Geige. Seine Hand begann zu zittern. Er verbarg sie schamhaft hinter seinem Rücken und wandte sich mir zu.
»Der Schmerz ballt sich zusammen und wird noch stärker, wenn man ein wehrloses Wesen leiden sieht. Und der Gedanke, dass man es mit einem heroischen Akt hätte verhindern können, martert einen ein Leben lang und bis in den Tod. Warum habe ich nicht geschrien; warum habe ich den Soldaten nicht beschimpft, der meine kleine Amelia mit dem Gewehrkolben schlug; warum habe ich ihn nicht angebrüllt; warum habe ich den Zug nicht angehalten; warum habe ich die SS-Männer nicht getötet, als sie sagten, du nach rechts, du nach links, du, hast du nicht gehört?«
»Wo sind meine Töchter?«
»Was sagst du?«
»Wo sind meine Töchter? Man hat sie mir aus den Händen gerissen.«
Mit ausgebreiteten Armen und weit aufgerissenen Augen stand Matthias vor dem Soldaten, der einen Offizier herbeigerufen hatte.
»Was habe ich damit zu tun? Los, geh weiter!«
»Nein! Amelia, eine mit pechschwarzem Haar, und Truu, eine Brünette, sie waren bei mir.«
»Du sollst weitergehen, habe ich gesagt. Stell dich auf die rechte Seite und hör auf zu krakeelen.«
»Meine Töchter! Und Juliet, die mit den goldenen Löckchen. Ein ganz kleines, sehr lebhaftes Mädchen. Sie war in einem anderen Waggon, hören Sie mich?«
Der Soldat, dem seine Beharrlichkeit auf die Nerven ging, versetzte ihm mit dem Gewehrkolben einen Schlag gegen die Stirn. Als Matthias betäubt zu Boden ging, sah er im Fallen ein Stück der Serviette auf der Erde liegen. Er hob es auf und umklammerte es wie zuvor eine seiner kleinen Töchter.
»Sehen Sie?« Er neigte den Kopf und schob die wenigen Haare zur Seite. Dort war ein auffälliger Fleck, die Narbe, die dieser ferne und doch immer noch nahe Schmerz zurückgelassen hatte.
»Stell dich in die Reihe, oder ich puste dir den Schädel weg«, sagte die bedächtige Stimme Doktor Buddens, des herbeigeholten Offiziers, wobei er die Hand auf die Pistolentasche legte. Es war später als üblich, und Doktor Budden war leicht gereizt, insbesondere nach seinem Gespräch mit Doktor Voigt, der Resultate sehen wollte, saugen Sie sich etwas aus den Fingern, verflixt, das kann doch nicht so schwierig sein, jedenfalls verlange ich einen Bericht über die Ergebnisse. Matthias Alpaerts konnte die Augen der Bestie nicht sehen, weil die Schirmmütze fast das ganze Gesicht verdeckte. Brav reihte er sich wieder in die rechte Schlange ein, deren Ziel, was er nicht wissen konnte, nicht die Gaskammer, sondern die Desinfektionsbaracke war, um ad maiorem Reiches gloriam kostenlose Arbeitskräfte bereitzustellen. Und Budden konnte wie der Rattenfänger von Hameln seine Auswahl unter den Jungen und Mädchen treffen. Und ein paar Meter weiter konnte Voigt Netje de Boeck, Matthias’ kränklicher Schwiegermutter, eine Kugel in den Kopf schießen. Und Matthias sagte zu Adrià, nach dieser Drohung des Offiziers war ich still, und seitdem denke ich, dass meine Töchter, Berta und meineSchwiegermutter gestorben sind, weil ich mich nicht widersetzt habe. Berta und Juliet hatte ich nicht mehr gesehen, seit wir in den Zug gestiegen waren.
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