Das Schweigen des Sammlers
Arme Berta, nicht einmal ein letzter Blick war uns vergönnt. Ein Blick, nur ein Blick, mein Gott. Ein Blick, wenn auch von weitem. Ein Blick … Meine Liebsten, ich habe euch im Stich gelassen. Und ich habe keine Rache nehmen können für die Angst, die diese Menschenfresser Truu, Amelia und Juliet einjagten. Verzeiht mir, wenn so viel Feigheit überhaupt zu verzeihen ist.
»Kasteien Sie sich nicht.«
»Ich war dreiunddreißig Jahre alt. Ich hätte kämpfen können.«
»Man hätte Sie erschossen, und Ihre Leute wären ohnehin gestorben. Jetzt leben sie in Ihrer Erinnerung.«
»Dummes Gerede. Es ist ein Martyrium. Dieses lächerliche Aufbegehren war der einzige Widerstand, den ich zu leisten wagte.«
»Ich verstehe, warum er das sagt; so etwas geht einem sicher nie mehr aus dem Sinn. Und das war es, was ihn für mich glaubwürdig machte: sein Schmerz. An dem er heute, morgen oder übermorgen zugrunde gehen wird. Sein Schmerz bestand darin, sich geduckt zu haben, um dem Gewehrkolben auszuweichen, der dann einen Jungen erschlug. Oder darin, einem Leidensgenossen einen Kanten Brot weggenommen zu haben. Das sind seine großen Sünden, die ihm die Seele zerfressen.«
»Wie Primo Levi.«
Es war das erste Mal an diesem Nachmittag, dass Bernat den Mund aufmachte und keine Beleidigung herauskam. Da ich ihn nur sprachlos ansah, fuhr er fort, weil der erst als alter Mann Selbstmord begangen hat. Er hätte es früher tun können, gleich nachdem er dem Grauen entronnen war. Oder Paul Celan, der auch Jahrzehnte gebraucht hat.
»Die haben sich nicht umgebracht, weil sie das Grauen erlebt haben, sondern weil sie es niedergeschrieben haben.«
»Ich weiß nicht, was du damit sagen willst.«
»Sie haben es aufgeschrieben, danach konnten sie sterben.So sehe ich es. Aber sie stellten auch fest, dass das Aufschreiben bedeutet, alles noch einmal zu durchleben; und Jahre damit zu verbringen, immer wieder aufs Neue durch dieselbe Hölle zu gehen, ist unerträglich. Sie starben, als das Grauen, das sie erlebt hatten, schriftlich niedergelegt war. Und am Ende ist all dieser Schmerz, all diese Angst auf tausend Seiten oder zweitausend Verse reduziert. Dass so viel Schmerz in einen drei Finger dicken Stapel Buchseiten passen soll, ist doch der reinste Hohn!«
»Oder auf eine CD wie diese«, sagte Bernat und zog eine aus der Hülle. »Ein ganzes Leben voller Grauen hier gespeichert.«
Zu diesem Zeitpunkt war mir bereits aufgefallen, dass Matthias Alpaerts’ schmutziger Lappen noch auf dem Tisch meines Arbeitszimmers lag. Entweder er hatte ihn vergessen, oder er hatte ihn mir geschenkt. Ich sah ihn, wagte aber nicht, ihn zu berühren. Ein ganzes Leben voller Grauen, als wäre dieser schmutzige Lappen eine CD. Oder ein Buch mit Gedichten nach Auschwitz.
»Ja. Hör zu, Bernat.«
»Ja?«
»Ich bin jetzt nicht in der Stimmung, mich mit Computern zu befassen.«
»Typisch. Kaum siehst du einen Bildschirm, kneifst du den Schwanz ein.«
Bernat ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen und rieb sich mit den Händen übers Gesicht; eine Geste, von der ich glaubte, sie gehöre allein mir. Dann klingelte das Telefon, und Adrià zuckte zusammen.
51
»Das Folgende stammt von Horaz: Tu ne quaesieris – scire nefas – quem mihi / quem tibi / finem di dederint, Leuconoe, nec Babylonios / temptaris numeros.«
Schweigen. Einige sahen aus dem Fenster, andere hielten den Blick gesenkt.
»Und was heißt das?« Das kecke Mädchen mit dem mächtigen Zopf.
»Hast du denn kein Latein gehabt?«, fragte Adrià erstaunt.
»Also, ich …«
»Und du?« Die Frage richtete sich an den Jungen am Fenster
»Ich? Na jaaa …«
Schweigen. Adrià Ardèvol wandte sich jetzt beunruhigt an die ganze Klasse: »Hat irgendjemand von euch Latein gehabt? Ihr studiert Ideengeschichte und habt nie einen Lateinkurs gemacht?«
Nach einigem Hin und Her stellte sich heraus, dass nur ein einziges Mädchen Latein gelernt hatte, das mit dem grünen Band im Haar. Adrià atmete ein paarmal tief durch, um sich von dem Schrecken zu erholen.
»Herr Professor, aber was heißt das, was Horaz sagt?«
»Es bedeutet dasselbe, was auch in der Apostelgeschichte, im zweiten Petrusbrief und in der Apokalypse steht.«
Noch zäheres Schweigen. Bis einer der Gescheiteren nachfragte, und was steht in der Apostelgeschichte … und so weiter?
»In der Apostelgeschichte und so weiter steht, der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht.«
»Was für ein Herr?«
»Hat keiner
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