Das Schweigen des Sammlers
Tübinger Universität zu halten. Stop. Morgen? Kamenek war wohl verrückt.
»Johannes?«
»Uff, endlich!«
»Was ist los?«
»Du musst mir einen Gefallen tun.« Kamenek klang, als wäre er mit den Nerven völlig am Ende.
»Warum die Eile?«
»Du hast den Hörer nicht richtig aufgelegt. Oder dein Telefon ist kaputt.«
»Äh, nein … Ich … Wenn du vormittags anrufst, ist halt nur die Putzfrau …«
»Geht es dir gut?«
»Na ja, bis ich dein Telegramm gelesen habe, ging es mir gut. Da steht, ich soll morgen einen Vortrag halten. Das ist sicher ein Tippfehler.«
»Nein, nein. Du musst Feuerwehr spielen. Ulrike Hörstrup hat mich versetzt. Bitte.«
»Puh …, und worüber?«
»Worüber du willst. Der Saal wird garantiert voll, weil es sich um die Teilnehmer der Jahrestagung handelt. Es ist alles prima gelaufen. Und jetzt, im letzten Moment …«
»Was ist denn mit der Hörstrup?«
»Neununddreißig Fieber. Sie hat die Reise gar nicht erst angetreten. Noch heute Nachmittag hast du das Ticket.«
»Und es muss morgen sein?«
»Um vierzehn Uhr. Sag ja.«
Ich sagte nein, ich wisse doch gar nicht, worüber ich reden solle, verflixt, Johannes, tu mir das nicht an, und er, sprich, worüber du willst, aber bitte, bitte komm, und so sagte ich schließlich zu, flog am nächsten Tag nach Stuttgart und fuhr von dort in mein geliebtes Tübingen. Im Flugzeug überlegte ich mir das Thema und notierte mir ein paar Stichpunkte. In Stuttgart hatte mich ein eigens unterwiesener pakistanischer Taxifahrer erwartet, der mich vor der Universität absetzte, nachdem er über etliche Kilometer auf schwindelerregende Weise die Verkehrsregeln gebrochen hatte.
»Ich weiß nicht, wie ich dir das je zurückzahlen soll«, sagte Johannes, der mich am Eingang der Fakultät in Empfang nahm.
»Es ist ein Gefallen, da gibt es nichts zurückzuzahlen. Ich werde über Coseriu sprechen.«
»Nein! Den hatten wir ausgerechnet heute Vormittag.«
»Mist.«
»Das hätte ich dir eigentlich vorher … Verflixt, tut mir leid. Kannst du nicht … ich weiß nicht …«
Ungeachtet meines Zögerns fasste Johannes meinen Arm und zog mich zum Veranstaltungssaal.
»Dann muss ich rasch etwas aus dem Ärmel schütteln. Gib mir ein paar Minuten.«
»Wir haben keine paar Minuten«, entgegnete Kamenek, ohne den Griff um meinen Arm zu lockern.
»Mannomann. Habe ich noch Zeit zum Pinkeln?«
»Nein.«
»Da soll noch mal einer behaupten, die Südländer würden improvisieren und die Deutschen methodisch planen …«
»Du hast recht. Aber Ulrike war auch schon ein Ersatz.«
»Hoppla, ich bin also dritte Wahl. Und warum verschiebt ihr es nicht?«
»Unmöglich. Das hat es noch nie gegeben. Und wir haben Teilnehmer von außerhalb, die …«
Vor der Saaltür blieben wir stehen. Er umarmte mich beschämt, sagte, danke, mein Freund, und schob mich in den Saal, wo dreißig Prozent der zweihundert Teilnehmer an der Linguisten-Tagung über die seltsame Erscheinung von Ulrike Hörstrup stutzten, kahlköpfig, mit Bauchansatz und gänzlich unweiblich. Während Adrià sich bemühte, Ordnung in Ideen zu bringen, die er nicht hatte, erinnerte Johannes Kamenek die Zuhörer noch einmal an Frau Professor Hörstrups gesundheitliche Probleme und sagte, dafür hätten sie das Glück, Professor Adrià Ardèvol zu hören, der über … der gleich zu Ihnen sprechen wird.
Er setzte sich neben mich, was wohl als Geste der Solidarität zu verstehen war. Ich bemerkte, wie er aufatmete und die Anspannung sichtlich von ihm wich. Armer Johannes. Und um Zeit zu haben, meine Gedanken zu sortieren, trug ich, langsam und auf Katalanisch, den Anfang eines Gedichts vonJosep Vincenç Foix vor, És per la Ment que se m’obre Natura / A l’ull golós; per ella em sé immortal / Puix que l’ordén, i ençà i enllà del mal, / El temps és u i pel meu ordre dura, und übersetzte es wortwörtlich: Es ist der Geist, durch den die Natur sich offenbart / Dem gierigen Auge; um ihretwillen weiß ich mich unsterblich / Denn ich befehle über sie, und diesseits und jenseits des Bösen / Ist die Zeit eins und auf meinen Befehl von Dauer. Und von Foix und der Bedeutung des Denkens in der Gegenwart ging ich dazu über, zu erklären, was Schönheit heißt und warum die Menschheit seit Jahrhunderten danach strebt. Professor Ardèvol warf viele Fragen auf, die er nicht beantworten konnte oder wollte. Und er kam unausweichlich auf das Böse zu sprechen. Und auf das Meer, das dunkle Meer. Er sprach von
Weitere Kostenlose Bücher