Das Schweigen des Sammlers
zu.
»Hallo.«
»Hallo.«
»Ich lade dich zum Essen ein«, sagte sie ernst.
»Ich kann nicht.«
»Ach, komm …«
»Ich kann nicht. Wirklich nicht. Ich muss zum Arzt.«
Laura sah ihn mit offenem Mund an, als wäre ihr das Wort im Hals stecken geblieben. Sie sah auf die Uhr, sagte aber nichts. Ein wenig eingeschnappt sagte sie, na schön, in Ordnung, dann eben nicht, auch gut. Und mit erzwungenem Lächeln: Geht es dir gut?
»Nein. Und dir?«
»Auch nicht. Vielleicht ziehe ich nach Uppsala.«
»Sag bloß. Aber wenn du dich dort wohler fühlst …«
»Ich weiß nicht.«
»Können wir uns ein andermal darüber unterhalten?«, fragte Adrià und hielt ihr entschuldigend das Handgelenk mit der Armbanduhr entgegen.
»Geh zum Arzt, geh schon.«
Adrià küsste sie auf die Wange und eilte hinaus, ohne sich noch einmal umzublicken. Hinter sich hörte er noch Bernats erleichtertes Gelächter, und ich war glücklich, im Ernst, denn Bernat hatte es mehr als verdient. Draußen regnete es, und mit Wassertropfen auf der Brille machte Adrià sich auf die aussichtslose Suche nach einem Taxi.
»Entschuldige, mein Lieber.« Adrià trat sich die nassen Schuhe auf der Fußmatte ab.
»Macht nichts.« Der Arzt führte ihn nach links direkt zum Sprechzimmer. »Ich dachte schon, du hättest es verschwitzt.«
Von rechts war das Klappern von Geschirr und Besteck zuhören. Doktor Dalmau ließ ihn eintreten und lehnte die Tür an. Zuerst streckte er die Hand nach seinem Kittel aus, überlegte es sich dann aber anders. Sie sahen sich schweigend an. Hinter dem Arzt die Reproduktion eines Modigliani-Gemäldes mit viel Gelb. Draußen das Pladdern des Frühlingsregens.
»Also, was hast du für Beschwerden?«
Adrià hob eine Hand, um ihn auf etwas aufmerksam zu machen.
»Hörst du nicht?«
»Was?«
»Das Telefon.«
»Ja. Es wird gleich jemand drangehen. Ist sicher für meine Tochter, und wir sind wieder stundenlang nicht erreichbar.«
»Ah.«
Tatsächlich brach das Läuten in der Privatwohnung ab, und man hörte eine weibliche Stimme sagen, hallo, ja, ich bin’s, wer denn sonst?
»Weiter«, sagte Doktor Dalmau.
»Das ist schon alles: das Telefon. Ich höre andauernd das Telefon klingeln.«
»Das musst du mir genauer erklären.«
»Ich höre ununterbrochen das Läuten des Telefons, ein Läuten, das mich anklagt und innerlich zerfrisst, und ich weiß nicht, wie ich es aus meinem Kopf vertreiben soll.«
»Seit wann ist das so?«
»Seit gut zwei Jahren. Fast drei. Seit dem vierzehnten Juli neunzehnhundertsechsundneunzig.«
»Quatorze juillet.«
»Oui.«
Seit dem Anruf am vierzehnten Juli neunzehnhundertsechsundneunzig. Das läutende Telefon stand auf Lauras Nachttisch in einem unordentlichen Schlafzimmer mit halb gepackten Koffern. Sie wechselten einen stummen, schuldbewussten Blick. Laura rührte sich nicht, ihr Kopf lag auf Adriàs Brust, und beide hörten zu, wie das Telefon monoton klingelte und klingelte und klingelte. Adrià schaute auf Lauras Haar und hoffte, sie würde etwas unternehmen. Sie tat nichts.Das Telefon schrillte unablässig. Und dann kehrte wundersamerweise endlich wieder Stille ein. Adrià entspannte sich und stellte fest, dass er sich während des Läutens immer mehr verkrampft hatte. Seine Hand fuhr durch Lauras Haar. Plötzlich stockte er mitten in der Bewegung, denn das Telefon schrillte aufs Neue los.
»Meine Güte, ist das eine Nervensäge«, sagte sie und schmiegte sich enger an ihn.
Wieder klingelte es eine ganze Weile.
»Geh dran«, sagte er.
»Ich bin nicht da. Ich bin bei dir.«
»Geh dran.«
Laura richtete sich unwillig auf, nahm den Hörer ab und sagte mit schläfriger Stimme: hallo. Sekundenlange Stille. Dann drehte sie sich zu ihm um, hielt ihm das Telefon hin und hatte Mühe, ihre Überraschung zu verbergen, als sie sagte:
»Es ist für dich.«
Unmöglich, dachte Adrià. Trotzdem nahm er den Hörer. Verwundert stellte er fest, dass dieses Telefon keine Schnur hatte. Und es erschien ihm seltsam, dass ihm das ausgerechnet in dem Moment wieder einfiel, als er Doktor Dalmau gegenübersaß, gut drei Jahre später.
»Hallo?«
»Adrià?«
»Ja.«
»Hier ist Bernat.«
»Wie hast du mich gefunden?«
»War nicht leicht. Hör zu …«
Mir war sofort klar, dass Bernats Zaudern nichts Gutes verhieß.
»Was ist?«
»Sara …«
Und damit war alles zu Ende, Liebste. Alles.
53
Die viel zu kurzen Tage an deiner Seite, die ich damit verbracht habe, dich zu säubern, warm zu halten, mit
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