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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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mussten sie zusehen, wie das Höllenfeuer ganze Fuder kostbaren Holzes verschlang. Als ein gottgesandter Regen es endlich löschte, durchkämmte Jachiam, der vierte und pfiffigste Sohn des alten Mureda aus Pardàc, den ganzen Wald nach brauchbarem Holz, das vom Feuer verschont geblieben war. Auf halbem Weg hinunter zur Klamm kauerte er neben einer jungen, verkohlten Tanne nieder, um seine Notdurft zu verrichten. Aber was er da sah, verdarb ihm die Lust, sich zu erleichtern: ein paar harzgetränkte Kienspäne, umhüllt von einem Lappen, der nach Kampfer oder irgendeiner anderen merkwürdigen Substanz roch. Ganz vorsichtig wickelte er das von den Flammen unberührte Stück Stoff aus, und als er es erkannte, schwindelte ihn: Der schmutzig grüne Lappen mit Saumstichen aus noch schmutzigerem gelbem Garn war aus dem Wams des dicken Bulchanij Brocia de Moena geschnitten. Und als er zwei weitere, allerdings völlig verbrannte Stoffhaufen fand, verstand er, dass Bulchanij, das Ungeheuer, seine Drohung wahr gemacht hatte, die Familie Mureda und mit ihr das ganze Dorf Pardàc zu vernichten.
    »Bulchanij.«
    »Ich rede nicht mit Hunden.«
    »Bulchanij.«
    Bei dem düsteren Klang seiner Stimme wandte der andere sich unwillig um. Bulchanij de Moena hatte einen Schmerbauch, auf dem er – hätte er noch länger gelebt und ihn gut genährt – irgendwann wunderbar seine Arme hätte aufstützen können.
    »Was zum Teufel willst du?«
    »Wo ist dein Wams?«
    »Was geht’s dich an?«
    »Du trägst es nicht. Zeig’s mir.«
    »Verpiss dich. Bildest du dir vielleicht ein, nur weil ihr in der Scheiße sitzt, müssten wir aus Moena alles tun, was ihr sagt?« Bulchanij starrte ihn hasserfüllt an. »Ich denke gar nicht daran, es dir zu zeigen. Und jetzt hau ab, Hundsfott, du stehst mir in der Sonne.«
    Da zückte Jachiam, der vierte Sohn des alten Mureda, in kalter Wut das Entrindungsmesser, das er stets am Gürtel trug, und jagte es dem dicken Bulchanij Brocia in den Bauch wie in den Stamm eines Ahorns, den es zu schälen galt. Bulchanij riss Mund und Augen sperrangelweit auf, weniger vor Schmerz als vor Staunen darüber, dass ein Hundsfott aus Pardàc es wagte, ihn anzurühren. Als Jachiam Mureda das Messer wieder herauszog, gab es ein hässliches blubberndes Geräusch von sich und war rot von Blut, und Bulchanij sackte auf seinem Stuhl zusammen, als entwiche ihm durch die Wunde die Luft.
    Jachiam sah den menschenleeren Weg hinauf und hinunter, dann lief er unbedacht los in Richtung Pardàc. Hinter dem letzten Haus von Moena bemerkte er, wie die Bucklige von der Mühle, die gerade mit einem Bündel nasser Wäsche daherkam, ihn mit offenem Mund anstarrte, als habe sie alles gesehen. Statt ihrem Blick mit dem Messer zu Leibe zu rücken, schritt er nur rascher aus. Er war noch keine zwanzig Jahre alt und ein Meister darin, den Klang des Holzes zu wecken – und doch war sein Leben soeben in Scherben gegangen.
    Seine Familie reagierte besonnen: Sie schickten gleich jemanden mit den Beweisstücken in die Nachbargemeinden, um zu belegen, dass Bulchanij ein Brandstifter war, der ihnen aus Rachsucht den Wald angezündet hatte, aber die aus Moena beschlossen, das Recht in die eigene Hand zu nehmen, und bliesen zur Jagd auf den vermaledeiten Jachiam Mureda.
    »Sohn«, sagte der alte Mureda, und sein Blick war noch trauriger als sonst, »du musst fliehen.« Er gab ihm einen Beutel mit der Hälfte des Goldes, das er in dreißig Jahren als Waldbauer im Paneveggio zusammengespart hatte, und keines seiner Kinder muckte gegen diese Entscheidung auf. In feierlichem Tonfall fuhr er fort: »Auch wenn keiner die richtigen Bäume zu finden und den Klang des Holzes zu wecken vermag wie du, mein lieber Sohn, viertes Kind dieses unglücklichen Hauses, ist dein Leben mehr wert als der beste der Ahornstämme, die wir von nun an nie wieder werden verkaufen können. Und so entgehst du dem Verderben, dem wir nun anheimfallen, weil Bulchanij aus Moena uns unser Holz genommen hat.«
    »Vater, ich …«
    »Verschwinde, flieh, aber stell es klug an. Geh nach Welschnofen, denn sie werden dich in Siròr gewiss suchen. Wir werden das Gerücht ausstreuen, du wärst in Siròr untergekrochen. Hier in den Tälern bist du nicht sicher. Du hast eine lange, lange Reise vor dir, die dich weit weg von Pardàc führen wird. Flieh, mein Sohn, und Gott schütze dich.«
    »Aber Vater, ich will nicht weg von hier! Ich will im Wald arbeiten.«
    »Den haben sie uns niedergebrannt. Als

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