Das Schweigen des Sammlers
Kunden. Ihr verzeiht doch, wenn ich abreise, ohne mich von Eurer Frau Gemahlin zu verabschieden?«
»Zehntausend.«
»Fünfzehntausend.«
»Dreizehn.«
»Vierzehn.«
»Einverstanden, Monsieur Vial.« Und nun, da der Preis feststand, erkannte Mijnheer Arcan leise an: »Ein außerordentlicher Klang.«
Vial legte den Geigenkasten auf den Tisch zurück und öffnete ihn wieder. Er bemerkte Mijnheer Arcans gierigen Blick. Dieser murmelte, wie zu sich selbst: »Eines ist sicher: Dieses Instrument wird vielen Menschen Freude bringen.«
Nicolas Arcan wurde mit der Geige alt und vererbte sie seiner Tochter, einer Cembalospielerin, und diese ihrem Neffen Nestor, dem Schöpfer der berühmten Drucke, und Nestor seinem Sohn und der Sohn einem Neffen und so weiter, bis Jules Arcan sich viele Jahrzehnte später durch eine Reihe von Fehlspekulationen an der Börse gezwungen sah, das Familienerbe zu verscherbeln. Und wie Arcan lebte auch die kränkliche Schwiegermutter in Antwerpen. Dieser Klang, diese Proportionen, diese Form, wie sie in der Hand liegt – einfach wunderbar … Eine echte Cremona. Und hätte mein Vater Skrupel gehabt, wäre Voigt ein Ehrenmann gewesen und hätte sich nicht für die Geige interessiert; hätte … dann würde ich das alles hier nicht erzählen. Hätte ich die Storioni nicht besessen, wäre ich nicht Bernats Freund geworden. Und ich hätte dich nicht bei einem Konzert in Paris kennengelernt. Ich wäre ein anderer und würde jetzt nicht zu dir sprechen. Ich weiß schon: Ich habe dir alles wild durcheinander erzählt, aber mein Kopf ist ziemlich leergeräumt. Bis hierher habe ich durchgehalten, habe es aber kaum geschafft, das Geschriebene noch einmal durchzulesen. Ich bringe es nicht übers Herz zurückzublicken; zum einen, weil ich bei manchem, was ich aufschrieb, weinen musste, aber auch, weil ich merke, dass jeden Tag ein Stuhl oder ein mit Kerzenhalternverzierter Spiegel aus meinem Kopf verschwindet. Nach und nach werde ich zu einer dieser Gestalten von Hopper, die aus dem Fenster oder aus dem Leben starren, mit leerem Blick, die Zunge pelzig von zu viel Tabak und Whisky.
Bernat sah Adrià an, der völlig in die Betrachtung eines über seinem Kopf hängenden Glyzinienblattes vertieft schien. Einen Augenblick lang zauderte er, dann wagte er zu fragen: »Kommt dir das bekannt vor, was ich dir hier vorlese?«
Nach kurzem Zögern fragte Adrià schuldbewusst zurück: »Müsste es das, Senyor?«
»Nenn mich nicht Senyor: Ich bin Bernat.«
»Bernat.«
Aber das Glyzinienblatt war interessanter. Und Bernat las an der Stelle weiter, wo er aufgehört hatte, nämlich als Adrià schrieb, ich will dir etwas sagen, was mich umtreibt, Liebste: Nachdem ich mein ganzes Leben damit zugebracht habe, über die Kulturgeschichte der Menschheit nachzugrübeln und ein Instrument beherrschen zu wollen, das sich nicht spielen lässt, will ich dir sagen, dass wir alle, wir und unsere Gefühle, nichts weiter sind als ein bbeschissener Zufall. Die Art, in der sich Fakten um Handlungen und Ereignisse ranken; die Tatsache, ob wir uns finden oder verlieren, einander ignorieren oder gar nicht erst kennenlernen – alles reiner Zufall. Der Zufall ist alles: Oder vielleicht ist nichts zufällig, sondern alles vorgezeichnet. Ich weiß nicht, welcher der beiden Behauptungen ich Glauben schenken soll, denn beide sind wahr. Aber da ich nicht an Gott glaube, kann ich ebenso wenig glauben, dass etwas vorgezeichnet ist, mag man es nun Schicksal oder sonst irgendwie nennen.
Liebste: Es ist spät, es ist schon Nacht. Ich schreibe diese Zeilen vor deinem Selbstbildnis, das dein innerstes Wesen wahrt, weil es dir gelungen ist, es einzufangen. Und vor den beiden Landschaften meines Lebens. Ein Nachbar, vielleicht Carreres aus dem dritten Stock, weißt du noch?, der Große, Blonde, schlägt die Aufzugtür zu, zu laut für diese späte Stunde. Adieu, Carreres. All die letzten Monate habe ich die Rückseite des Manuskripts beschrieben, in dem ich erfolglosversucht hatte, das Böse zu verstehen. Verlorene Liebesmühe. Beidseitig bekritzeltes Papier. Auf einer Seite der misslungene Versuch; auf der anderen die Geschichte eines Lebens und meiner Ängste. Ich habe dir tausend Dinge über mein Leben erzählen können; sie sind unzutreffend, aber wahr. Und ich kann dir von meinen Eltern berichten, kann Dinge aus ihrem Leben heraufbeschwören oder erfinden, denn ich habe sie gehasst, verurteilt, verachtet und ein bisschen vermisst.
Diese
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