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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Geschichte ist für dich, damit du an irgendeinem Ort lebendig bleibst, und sei es auch nur in meiner Erzählung. Sie ist nicht für mich, der ich den morgigen Tag nicht mehr erleben werde. Ich fühle mich wie Anicius Manlius Torquatus Severinus Boethius, der um vierhundertfünfundsiebzig in Rom geboren wurde, sein Leben dem Studium der klassischen Philosophie widmete und dafür mit Ehren überhäuft wurde; ich habe neunzehnhundertsechsundsiebzig an der Universität Tübingen promoviert und an der Universität von Barcelona unterrichtet, eine Viertelstunde Fußweg von zu Hause entfernt. Ich habe mehrere Werke publiziert, Frucht meiner in den Seminaren laut geäußerten Gedanken. Ich habe hohe politische Ämter bekleidet, die mich vom Ruhm ins Elend gestürzt haben, und nun sitze ich im Ager Calventianus, einem Kerker bei Pavia, und warte auf das Urteil der Richter, von dem ich schon weiß, dass es meinen Tod bedeuten wird. Und so halte ich die Zeit an, indem ich De consolatione philosophiae schreibe, während ich auf das Ende warte, während ich dir diese Memoiren schreibe, die keinen anderen Namen tragen können als den, den sie tragen. Mein Tod wird, im Gegensatz zu dem des Boethius, langsam sein. Und mein mörderischer Kaiser heißt nicht Theoderich, sondern Alzheimer der Große.
    Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld, so haben sie es mich in der Schule gelehrt, obwohl ich nicht getauft bin – glaube ich jedenfalls. Und das Ganze haben sie mir mit einer unglaublichen Geschichte über die Erbsünde gewürzt. Ich trage die Schuld an allem; wenn nötig, bin ich auch schuldig an allen Erdbeben, Bränden und Überschwemmungen der Geschichte. Ich weiß nicht, wo Gott ist. Nicht meiner und nicht deiner und auch nicht der Gott der Epsteins. Das Gefühl der Einsamkeit zerreißt mich, Liebste, Allerliebste.
    Für den Sünder gibt es keine Erlösung. Höchstens die Vergebung durch das Opfer. Aber oft kann man auch mit der Vergebung nicht leben. Müss entschied sich für die Wiedergutmachung, ohne von irgendjemandem Vergebung zu erwarten, nicht einmal von Gott. Ich fühle mich schuldig an vielen Dingen und habe versucht weiterzuleben. Confiteor. Ich schreibe unter großen Mühen, angestrengt, verwirrt, weil ich schon die ersten besorgniserregenden Aussetzer habe. Nach dem, was der Arzt andeutet, werde ich, wenn diese Seiten gedruckt werden, schon dahinvegetieren, Liebste, und niemanden mehr um Hilfe bitten können, meinem Leben – wenn nicht aus Liebe, so doch zumindest aus Mitleid – ein Ende zu setzen.
    Bernat sah seinen Freund an, und der erwiderte schweigend seinen Blick. Einen Augenblick lang war er beunruhigt, weil er an Gertruds Blick denken musste. Trotzdem las er weiter, mein Schreiben war nichts anderes als der verzweifelte Versuch, dich zurückzuhalten. Ich bin in die Höllen der Erinnerung hinabgestiegen, und die Götter haben mir gestattet, dich zurückzuholen, allerdings unter einer unmöglichen Bedingung. Jetzt verstehe ich Lots Frau, die sich ebenfalls im falschen Augenblick umwandte. Ich schwöre, ich habe mich nur umgedreht, um sicherzugehen, dass du auf der unregelmäßigen Treppe nicht ins Stolpern gerätst. Die unerbittlichen Götter des Hades haben dich in die Hölle des Todes zurückgeholt. Ich habe dich nicht wieder lebendig machen können, geliebte Euridyke.
    »Eurydike.«
    »Was?«
    »Nichts, nichts, verzeihen Sie.«
    Bernat brach der kalte Schweiß aus. Erschrocken schwieg er einige Minuten lang.
    »Verstehst du mich?«
    »Hm?«
    »Weißt du, was ich da vorlese?«
    »Nein.«
    »Wirklich nicht?«
    »Junger Maaann!«
    »Einen Augenblick«, sagte Bernat entschlossen. »Ich bin gleich wieder da.« Ohne eine Spur von Ironie befahl er: »Rühr dich nicht von der Stelle. Und ruf nicht nach Wilson, ich bin gleich zurück.«
    »Wilson!«
    Sein Herz raste vor Entsetzen. Ohne anzuklopfen, stürmte er ins Zimmer des Arztes und rief Doktor Valls entgegen, er hat mich korrigiert, als ich etwas falsch ausgesprochen habe!
    Der Arzt blickte von den Unterlagen auf, in denen er gelesen hatte. Als wäre er von der Langsamkeit seiner Patienten angesteckt, brauchte er ein paar Sekunden, um die Information zu verdauen.
    »Eine Reflexhandlung.« Er sah in seine Papiere und dann wieder zu Bernat hinüber. »Senyor Ardèvol kann sich an nichts erinnern. Jetzt nicht mehr. Das war reiner Zufall, so sehr wir das alle bedauern.«
    »Aber er hat Eurydike gesagt, als ich Euridyke gesagt

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