Das Schweigen des Sammlers
meines Freundes, der mir seit vielen Jahren geduldig die Freundschaft gewahrt hat, in diesen Zeilen immer dann fortleben, wenn jemand diese Seiten liest. Und eines Tages – so sagt man mir – wird auch mein Körper verfallen. Verzeih mir, aber mehr habe ich nicht mehr vollbringen können, wie Orpheus. Die Wiederauferstehung ist allein den Göttern vorbehalten. Confiteor, meine Liebste. Nächstes Jahr in Jerusalem. Jetzt ist morgen.
Dieser lange Brief, den ich dir geschrieben habe, ist hiermit zu Ende. Da ich keine Zeit hatte, dir einen kurzen Brief zu schreiben, habe ich dir einen langen geschrieben. Nach so vielen geschäftigen Tagen kommt nun die Zeit der Ruhe. Herbstbeginn. Morgengrauen, Ende der Bilanz. Jetzt ist morgen für immer. Ich habe den Fernseher eingeschaltet, und der verschlafen aussehende Wettermann hat mir versichert, dassdie nächsten Stunden einen Temperatursturz und Platzregen bringen werden. Das hat mich an die Szymborska erinnert, die einmal gesagt hat, selbst wenn im Wetterbericht Sonnenschein angekündigt ist, sollten die noch Lebenden einen Regenschirm dabeihaben. Ich aber werde ihn ganz gewiss nicht mehr brauchen.
59
Im Zimmer neben der 54 leierten Kinderstimmen ein Weihnachtslied, dann hörte man wohlmeinenden Applaus und die Stimme einer Frau: »Fröhliche Weihnachten, Papa. Kinder, wünscht Opa schöne Weihnachten!«
Plötzlich hörte man hastige Schritte, dann kam Jònatan aufgeregt aus Zimmer 54 gestürzt: »Wilson!«
»Ja?«
»Wo ist Senyor Ardèvol?«
»Wo soll er schon sein? In seinem Zimmer.«
»Nein, eben nicht!«
»Um Himmels willen, wo soll er denn sonst sein?«
Lustlos öffnete Wilson die Zimmertür und sagte, na, Goldstück. Doch das Goldstück war nicht da. Nicht im Bett, nicht im Rollstuhl auch sonst nirgendwo. Und so stellten Wilson, Jònatan, Doktor Valls und eine Viertelstunde später auch Doktor Dalmau, Bernat Plensa und alle Pflegekräfte, die gerade nicht anderweitig beschäftigt waren, das ganze Heim auf den Kopf, suchten auf Terrassen, in den Badezimmern sämtlicher Räume, in Büros, in allen Zimmern, in allen Schränken aller Zimmer, ogott, ogott, wie kann das bloß sein – der arme Mann kann doch kaum noch laufen? Wo bist du? Schließlich ließen sie sogar Caterina Fargues kommen, in der Hoffnung, die könne ihnen weiterhelfen. Dann erweiterten sie den Suchradius auf das Gebiet rund um das Heim, schalteten die Polizei ein, die ihn im Park von Collserola suchte, hinter jedem Baum, bei den Brunnen, vielleicht irrte er im dichten Wald umher, wo es viele Wildschweine gab, oder lag – Gott behüte! – auf dem Grund eines Teiches. Und Bernat musste an die Verse von Rosalía de Castro denken: Ich habe Angst vor etwas, das lebt und das man doch nicht sehen kann. Ich habe Angst vor dem tückischen Unglück, das kommt, und von dem man doch nie weiß, woher es kommt. Adrià, wo bist du. Denn Bernat war der Einzige, der die Wahrheit wissen konnte.
An jenem Tag mussten sie nach der Beerdigung des Pater Prior das Kloster endgültig schließen, es den Waldmäusen überlassen, die sich, den Bemühungen der Mönche zum Trotz und auch ohne Benediktinerkutte, schon vor Jahrhunderten hier zu Herren des heiligen Ortes aufgeschwungen hatten, gemeinsam mit den Fledermäusen, die in der kleinen Gegenapsis mit dem Erzengel Michael über der gräflichen Grabstätte hausten. Und schon in wenigen Tagen würden hier auch die wilden Tiere aus den Bergen ihre Herrrschaft antreten, und sie konnten nichts dagegen tun.
»Bruder Adrià.«
»Ja.«
»Ihr seht schlecht aus.«
Er sah sich um. Sie waren allein in der Kirche. Die Eingangstür stand offen. Erst vor kurzem, noch in der Nacht, hatten die Männer aus Escaló den Prior begraben. Er betrachtete seine offenen Handflächen, eine Geste, die ihm gleich darauf zu theatralisch erschien. Er warf einen raschen Blick zu Bruder Julià hinüber und fragte leise, was mache ich hier?
»Das Gleiche wie ich. Wir bereiten uns auf die Schließung von Burgal vor.«
»Nein, nein … Ich lebe … Ich lebe nicht hier.«
»Ich verstehe Euch nicht.«
»Wie? Was?«
»Setzt Euch, Bruder Adrià. Leider haben wir ja alle Zeit der Welt.« Er nahm ihn beim Arm und drückte ihn auf eine Bank. »Setzt Euch«, wiederholte er dann, obwohl der andere schon saß.
Draußen färbten die Finger der Morgenröte den noch dunklen Himmel, und die Vögel berauschten sich an ihrem eigenen Gesang. Selbst ein Hahn aus Escaló stimmte von ferne in den Festlärm
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