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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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wollte. Er war ein Mensch, und das versuchte er zu überspielen.
    »Was hast du gelernt?«
    »Dass diese Geige nicht mir gehört, sondern dass ich ihr gehöre. Ich bin einer von vielen, die sie besessen haben. Im Lauf ihres Lebens hatte diese Storioni etliche Instrumentalisten in ihren Diensten. Und jetzt gehört sie mir, aber ich kann sie nur betrachten. Deshalb habe ich mir gewünscht, dass du Geige spielen lernst, damit du die lange Reihe im Leben dieses Instruments fortsetzt. Nur dafür musst du spielen lernen. Nur dafür, Adrià. Ganz gleich, ob dir die Musik gefällt.«
    Mit welcher Eleganz mein Vater die Wahrheit verdrehte und tat, als lernte ich auf sein Betreiben Geige spielen und nicht etwa, weil meine Mutter es durchgesetzt hatte. Mit welcher Eleganz mein Vater über das Schicksal anderer verfügte. Dennoch zitterte ich in diesem Moment vor Erregung, obwohl ich verstanden hatte, worum es ihm ging, und trotz dieses schauerlichen Ganz gleich, ob dir die Musik gefällt.
    »Von wann ist sie?«, fragte ich.
    Er forderte mich auf, durch das rechte Schallloch zu sehen: Laurentius Storioni Cremonensis me fecit 1764.
    »Lass sie mich mal halten.«
    »Nein. Denk lieber an die Geschichten, die in dieser Geige stecken. Aber Anfassen kommt nicht in Frage.«
    Jachiam Mureda ließ die beiden Karren und die Männer unter der Führung von Blond de Cazilhac weiter zur Abtei von La Grasse ziehen, während er sich einen Winkel suchte, um seinen Darm zu entleeren. Ein Augenblick der Ruhe. An den langsam davonfahrenden Holzwagen vorbei konnte er die Umrisse des Klosters mit der vom Blitzschlag zerstörten Mauer erkennen. Drei Sommer waren vergangen, seit er vordem Hass der Brocias aus Moena geflohen war, und nun war er von Carcassonne nach La Grasse unterwegs, wo sich sein Schicksal wenden sollte. Er hatte sich an die sanfte okzitanische Mundart gewöhnt. Er hatte sich damit abgefunden, nicht jeden Tag Käse zu essen. Jedoch ertrug er es nur schwer, nicht von Wäldern umgeben zu sein und keine Berge in der Nähe zu haben; es gab zwar welche, aber nur in weiter Ferne, so weit weg, dass sie nicht echt wirkten. Während er sich erleichterte, begriff er mit einem Mal, dass es nicht die Landschaft war, die er vermisste, sondern sein Vater, der alte Mureda aus Pardàc, und all die anderen Muredas: Agno, Jenn, Max, Hermes, Josef, Theodor, Micurà, Ilse, Erica, Katharina, Matilde, Gretchen und die kleine Bettina, die mir das Medaillon mit der heiligen Maria dai Ciüf geschenkt hatte, der Schutzpatronin der Holzfäller von Pardàc, damit ich mich niemals einsam fühlen sollte. Und er weinte vor Sehnsucht nach seinen Leuten, und während er schiss, nahm er das Medaillon vom Hals und betrachtete es: die Frontalansicht einer schlichten, ernsten Madonna mit einem unscheinbaren Säugling im Arm und einer üppigen Tanne im Hintergrund, die ihn an die Tanne am Travignolo-Bach in seinem Pardàc erinnerte.
    Die Reparatur der Mauer war schwierig, weil sie zuerst ein gutes Stück abtragen mussten, das sich als brüchig erwiesen hatte. Doch binnen zwei Tagen baute er ein erstklassiges Holzgerüst und erwarb sich damit großes Lob vom Schreiner des Klosters, Bruder Gabriel, einem Mann mit Händen so derb wie Füße, wenn es ans Hacken und Schlagen ging, und so empfindsam wie Lippen, wenn er die Beschaffenheit des Holzes prüfte. Sie verstanden sich auf Anhieb. Der überaus geschwätzige Mönch wollte wissen, wieso Jachiam so viel von Holz verstand, wenn er doch bloß Zimmermann war, und Jachiam, zum ersten Mal seit seiner Flucht befreit von der Angst vor Rache, antwortete ihm, ich bin kein Zimmermann, Bruder Gabriel, ich bin einer, der das Holz schneidet und auf es hört. Mein Beruf ist es, den Klang des Holzes zu wecken, die Bäume und den Teil des Stammes auszuwählen, den die Instrumentenbauer später verwenden, um einenguten Klangkörper herzustellen, sei es für eine Bratsche, eine Geige oder irgendein anderes Instrument.
    »Und warum um alles in der Welt arbeitest du dann für einen Baumeister, mein Sohn?«
    »Einfach so. Das ist eine schwierige Geschichte.«
    »Du bist vor etwas davongelaufen, was dir Angst macht.«
    »Ich weiß nicht recht.«
    »Es ist wahrhaftig nicht meine Sache, aber pass auf, dass du nicht vor dir selbst davonläufst.«
    »Nein. Ich glaube nicht. Warum?«
    »Wer vor sich selbst davonläuft, dem bleibt der Schatten seines Feindes ständig auf den Fersen, und er muss weiterrennen, bis er zusammenbricht.«
    »Ist dein Vater

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