Das Schweigen des Sammlers
Hymnen. Und dann wollte Vater, dass Herr Oliveres mich in Französisch prüfte, um zu sehen, ob ich Nachhilfe brauchte, und nach der Prüfung sagte Monsieur Oliveres ihm, ich benötigte keine Nachhilfe, mit dem, was sie mir in der Schule beibrächten, sei es vollauf genug. Und was machen wir dann mit der freien Stunde? Wie sieht es mit Ihrem Englisch aus, Mister Oliveres?
Ja, es war aus vielen Gründen ein Fehler, in diese Familie hineingeboren zu werden. Bedauerlicherweise wusste mein Vater nur, dass ich sein Sohn war. Dass ich auch ein Kind war, hatte er gar nicht bemerkt. Und meine Mutter starrte auf die Fliesen, ohne den Streit zwischen Vater und Sohn zu beachten. Oder zumindest schien es mir so. Zum Glück hatte ich Carson und Schwarzer Adler, die immer meiner Meinung waren.
7
Es war bereits Nachmittag; die Trullols hatte noch eine Schülergruppe, die kein Ende fand, und ich wartete. Ein Junge, der größer war als ich und schon einen feinen Flaum auf der Oberlippe und ein paar Haare an den Beinen hatte, setzte sich neben mich. Na ja, er war wesentlich größer als ich. Er hielt seine Geige umarmt und blickte geradeaus, um mich nicht anzusehen, und Adrià sagte hallo.
»Hallo«, erwiderte Bernat, ohne ihn anzusehen.
»Bist du bei der Trullols?«
»M-mmh.«
»Im Ersten?«
»Im Dritten.«
»Ich auch. Dann sind wir zusammen. Darf ich deine Geige mal sehen?«
Dank meines Vaters gefielen mir die Instrumente damals fast besser als die Musik, die man darauf spielte. Bernat jedoch schaute mich misstrauisch an. Einen Augenblick lang dachte ich, er hätte eine Guarneri und wolle sie nicht zeigen. Als ich aber meinen Kasten öffnete und ihm meine Übungsgeige zeigte, dunkelrot, doch von sehr gewöhnlichem Klang, tat er dasselbe mit dem seinen. Ich ahmte Senyor Berenguers Tonfall nach: »Französisch, Anfang des Jahrhunderts.« Dann sah ich ihm direkt ins Gesicht. »Eine von denen, die für Madame d’Angoulême gemacht wurden.«
»Woher weißt du das?« Bernat starrte mich betroffen, verblüfft, mit offenem Mund an.
Von diesem Tag an bewunderte Bernat mich. Wegen der dümmsten Sache, die man an mir bewundern konnte. Es war ganz einfach, sich Dinge zu merken und sie beurteilen und einordnen zu können. Man brauchte bloß einen Vater, der verrückt nach so etwas war. Woher weißt du das?
»Der Lack, die Form, die ganze Ausstrahlung …«
»Alle Geigen sind gleich.«
»Glaub das nicht. Jede Geige ist eine Geschichte. Zu jeder Geige musst du außer dem Geigenbauer alle Musiker zählen, die je auf ihr gespielt haben. Diese Geige gehört nicht dir.«
»Und ob!«
»Nein, es ist umgekehrt. Pass auf …«
Vater hatte mir das eines Tages erklärt, in der Hand die Storioni. Er hielt sie mir ein wenig zögernd hin und sagte, sei vorsichtig, dieses Stück ist einmalig auf der Welt. Die Storioni fühlte sich an wie lebendig. Ich glaubte, ein sanftes, trauliches Pulsieren zu vernehmen. Und Vater sagte mit glänzenden Augen, denk dran, dass diese Geige Geschichten erlebt hat, von denen wir nichts wissen, ihr Klang hat Säle und Häuser erfüllt, die wir niemals kennenlernen werden, und sie hat alle Freuden und Leiden der Musiker erfahren, die sie gespielt haben. All die Gespräche, die sie gehört, all die Musik, die sie erlebt haben muss … »Ich bin sicher, sie könnte uns viele bewegende Geschichten erzählen«, schloss er mit einem Zynismus, den ich damals nicht begriff.
»Lass mich darauf spielen, Vater.«
»Nein. Erst wenn du den achten Geigenkurs hinter dir hast. Dann gehört sie dir. Hast du mich verstanden? Dir.«
Ich schwöre, die Storioni pochte lauter, als sie das hörte. Ob vor Freude oder vor Schreck, hätte ich nicht sagen können.
»Sieh mal, sie ist …, wie soll ich sagen …, sie ist ein lebendiges Wesen und hat sogar einen Namen, wie du und ich.«
Adrià sah seinen Vater abwartend an, unsicher, ob der ihn auf den Arm nehmen wollte.
»Einen Namen?«
»Ja.«
»Und wie heißt sie?«
»Vial.«
»Was bedeutet Vial?«
»Was bedeutet Adrià?«
»Ist doch klar … Hadrianus ist der Name der römischen Sippe, die von Hadria am Adriatischen Meer stammt.«
»Das habe ich nicht gemeint, verdammt.«
»Du hast mich doch gefragt, was Adrià …«
»Ja, ja, schon gut … Also, die Geige heißt Vial, punktum.«
»Aber warum heißt sie Vial?«
»Weißt du, was ich gelernt habe, mein Sohn?«
Adrià sah ihn enttäuscht an, weil er der Frage auswich oder keine Antwort wusste und das nicht zugeben
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