Das Schweigen des Sammlers
gesehen hat, und was ist der Dank? Plötzlich wurde er laut: »›Ich will kein Aramäisch lernen?‹« Und noch lauter: »Hä?«
»Ich will …«
Stille. Mutter hob erwartungsvoll den Kopf. Carson regte sich neugierig in meiner Tasche. Ich wusste nicht, was ich wollte. Ich wusste nur, dass ich mir nicht vorzeitig ein Brett vor den Kopf nageln lassen wollte. Einige Sekunden dachte ich angestrengt nach, dann sagte ich aufs Geratewohl: »Ich will Arzt werden.«
Stille. Verblüffter Blickwechsel meiner Eltern.
»Arzt?«
Einen Moment lang versuchte Vater, sich meine Zukunft als Arzt vorzustellen. Mutter wahrscheinlich auch. Da mirschon beim bloßen Gedanken an Blut schlecht wird, ahnte ich, dass ich danebengehauen hatte. Nach kurzem Zögern rückte Vater mit seinem Stuhl näher zum Tisch und nahm sich wieder seine Lektüre vor.
»Kommt nicht in Frage. Weder Arzt noch Nonne. Aus dir wird ein großer Geisteswissenschaftler. Das ist mein letztes Wort.«
»Vater.«
»Komm schon, Junge, ich habe zu tun. Geh und mach ein bisschen Radau auf deiner Geige.«
Und Mutter starrte zu Boden, noch immer gefesselt von den farbigen Fliesen. Verräterin.
Anwalt, Arzt, Architekt, Chemiker, Bauingenieur, Zahnarzt, Anwalt, Maschinenbauingenieur, Optiker, Pharmazeut, Anwalt, Fabrikant, Textilingenieur oder Bankier, das waren die bevorzugten Berufe aller Eltern für ihre Kinder.
»Anwalt hast du mehrmals gesagt.«
»Weil es von alldem das Einzige war, was man als Geisteswissenschaftler werden konnte. Aber die Kinder dachten eher daran, Kohlenhändler, Anstreicher, Schreiner, Laternenanzünder, Maurer, Pilot, Schäfer, Fußballspieler, Nachtwächter, Bergsteiger, Gärtner, Lokführer, Fallschirmspringer, Straßenbahnfahrer, Feuerwehrmann oder Papst zu werden.«
»Aber noch nie hatte ein Vater zu seinem Sohn gesagt, wenn du groß bist, wirst du Geisteswissenschaftler.«
»Nie. Aber meine Familie war ziemlich seltsam. Deine doch irgendwie auch.«
»Tja …«, sagtest du, wie jemand, der einen unverzeihlichen Fehler eingestehen muss und nicht ins Detail gehen will.
Die Tage vergingen, und Mutter schwieg, als wartete sie geduckt darauf, dass sie an der Reihe war. Ich nahm also den Unterricht wieder auf, mittlerweile mit dem dritten Lehrer, Herrn Oliveres, einem jungen Mann, der bei den Jesuiten arbeitete, sich aber etwas dazuverdienen musste. Ich kannte Herrn Oliveres bereits, obwohl er die höheren Klassen unterrichtete, weil er es stets übernahm, vermutlich für eine kleine Zulage, donnerstags nachmittags die Schüler zu beaufsichtigen, die wegen notorischer Unpünktlichkeit nachsitzen mussten, und dann die ganze Zeit damit zubrachte, in seinen Büchern zu lesen. Und er hatte eine solide Lehrmethode.
»Eins.«
»Ains.«
»Zwei.«
»Svai.«
»Drei.«
»Drai.«
»Vier.«
»Fia.«
»Fünf.«
»Funf.«
»Nein: Fünf.«
»Finf.«
»Nein: Füüünf.«
»Füüünf.«
»Sehr gut!«
Sofort vergaß ich die mit Herrn Romeu und Herrn Casals vergeudete Zeit und machte schnell Fortschritte. Die deutsche Sprache begeisterte mich aus zwei Gründen: weil sie nicht romanischen Ursprungs war und die Wörter somit alle völlig neu für mich waren, vor allem aber, weil sie Deklinationen hatte wie das Lateinische. Herr Oliveres konnte es kaum fassen. Schon bald verlangte ich nach Syntax-Aufgaben, und der Mann glaubte zu träumen, doch ich fand es schon immer spannend, mir den Zugang zu einer Sprache über ihren harten Kern zu verschaffen. Nach der Uhrzeit kann man auch mit Händen und Füßen fragen. Und ja, es machte mir Spaß, eine neue Sprache zu lernen.
»Wie läuft es mit dem Deutschunterricht?«, fragte mein Vater ungeduldig nach der ersten Stunde der Oliveres-Ära.
»Aaalso, eigentlich gut«, antwortete ich auf Deutsch mit unbeteiligter Miene. Ich brauchte Vater nicht anzusehen, um zu wissen, dass er lächelte, und fühlte mich großartig, dennauch wenn ich es niemals eingestehen wollte, hätte ich in diesem Alter noch alles darum gegeben, meinem Vater zu imponieren.
»Was dir fast nie gelungen ist.«
»Ich hatte nicht genug Zeit.«
Herr Oliveres erwies sich als ein gebildeter, scheuer Mensch mit leiser Stimme, der immer schlecht rasiert war, heimlich Gedichte schrieb und stinkenden Tabak rauchte, mir aber die Sprache von innen heraus erklärte. Und mich bereits in der zweiten Stunde an die schwachen Verben heranführte. Und in der fünften gab er mir, zögernd, als wäre es ein schweinisches Foto, eine von Hölderlins
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