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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Jetzt rede ich. Wir werden nie zusammenleben, weil du mich nicht liebst. Nein, halt du den Mund, jetzt bin ich an der Reihe. Du sollst den Mund halten, habe ich gesagt! Deine schönen Worte kannst du dir sonst wohin stecken. Es ist aus. Hörst du? Was?«
    Adrià, am Tisch mit den Handschriften, wusste nicht, was aus war und ob es ihn etwas anging. Er verstand nicht, warum die Erwachsenen immer so ein Theater um dieses Du-liebst-mich-nicht machten, wenn die Liebe, wie er zunehmend feststellte, doch echt lästig war, mit der Küsserei und so.
    »Nein. Sag gar nichts. Was? Weil ich auflege, wann es mir passt. Himmel, Arsch und Zwirn, wann es mir passt, hab ich gesagt!«
    Der Ausdruck Himmel, Arsch und Zwirn war mir neu. Seltsam, so etwas aus dem Mund der manierlichsten Person zu hören, die ich kannte. In Fluch- und Ausrufeformeln dient Himmel als superlativische Verstärkung für Begriffe, die das Weite und Hohe, das Laute und Große, auch das Unflätige und elementar Eindrucksvolle bezeichnen. Cecília knallte mit solcher Kraft den Hörer auf, dass ich dachte, sie hätte das Telefon zerschlagen. Und dann nahm sie ihre Arbeit auf und begann, die neuen Stücke zu etikettieren und sie in den beiden Wareneingangsbüchern aufzulisten, ernst, die Brille auf der Nase, ohne jede äußerliche Spur ihres Zusammenbruchs vor ein paar Minuten. Problemlos konnte ich durch die kleine Tür hinausschlüpfen und durch die Vordertür wieder hereinkommen, hallo, Cecília sagen und feststellen, dass in ihrem stets gepflegten Gesicht von Tränen nichts mehr zu sehen war.
    »Was treibst du, Schätzchen?«, lächelte sie.
    Und ich bekam den Mund nicht mehr zu, so verändert wirkte sie.
    »Was hast du dir denn von den Heiligen Drei Königen gewünscht?«, erkundigte sie sich.
    Ich zuckte mit den Achseln, weil es bei uns zu Hause keine Heiligen Drei Könige gibt, weil die Eltern die Heiligen Drei Könige sind und man keinem primitiven Aberglauben aufsitzen sollte. Seit ich zum ersten Mal von den Heiligen Drei Königen gehört hatte, war das aufgeregte Warten auf die Geschenke zum Dreikönigstag für mich eher ein schicksalergebenes Warten auf die von meinem Vater ausgesuchten Geschenke, die nicht von meinen schulischen Leistungen abhingen, denn die wurden als selbstverständlich vorausgesetzt,noch von meinem guten Betragen, das ebenso selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Immerhin bekam ich zu dieser Gelegenheit irgendein Kindergeschenk, das mit der allgemeinen Nüchternheit unserer Familie kontrastierte.
    »Ich habe mir eine …« Doch mir fiel ein, dass Vater mir schon gesagt hatte, ich bekäme einen Rettungswagen mit echter Sirene, und wehe mir, wenn ich die in der Wohnung losheulen ließe. »… einen Rettungswagen mit Sirene gewünscht.«
    »Komm, gib mir einen Schmatz«, sagte Cecília und streckte den Arm nach mir aus.
    Eine Woche später brachte mein Vater aus Bremen eine mykenische Vase mit, die dann jahrelang im Laden von einem Platz zum anderen wanderte, und außerdem, soweit ich das mitbekam, eine Menge nützlicher Dokumente sowie ein paar Kleinodien in Form von Erstausgaben oder Originalmanuskripten, vor allem aber eine Handschrift aus dem vierzehnten Jahrhundert, die er als eines seiner Lieblingsstücke bezeichnete. Man informierte ihn, dass zu Hause und im Laden mehrere sonderbare Anrufe für ihn eingegangen seien. Und als wäre das vollkommen belanglos, sagte er zu mir, sieh dir das an, sieh nur, ist das nicht wunderschön?, und zeigte mir einige Hefte: das Manuskript der letzten Texte, die Proust je geschrieben hatte. Aus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit . Ein Gewirr aus kleinen Buchstaben, an den Rand gekritzelten Absätzen, Notizen, Pfeilen, mit Klammern zusammengehaltenen Seiten … Los, lies das.
    »Das kann man ja gar nicht entziffern.«
    »Komm schon! Das ist der Schluss. Die letzten Seiten, der letzte Satz. Du willst doch nicht etwa behaupten, du wüsstest nicht, wie die Suche endet.«
    Ich wusste keine Antwort. Vater fiel wohl selbst auf, dass er den Bogen überspannt hatte, und um sich nichts anmerken zu lassen, sagte er in diesem Tonfall, den er so gut beherrschte: »Sag bloß, du kannst immer noch kein Französisch!«
    »Oui, bien sûr, aber ich kann die Schrift nicht lesen.«
    Das war anscheinend die falsche Antwort, denn mein Vater klappte ohne ein weiteres Wort das Heft zu und verwahrte es im Tresor, während er zwischen den Zähnen hervorpresste, ich muss mir etwas einfallen lassen, langsam nimmt es

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