Das Schweigen des Sammlers
meinen Vater an, dann meine Mutter, die sich so unbehaglich fühlte wie ich, aber nur mit dem Kaffee beschäftigt war, und sagte, unus una unum, duo duae duo, tres tres tria, quattuor, quinque, sex, septem, octo, novem, decem, und flehend: »Vater …«
»Sei still«, unterbrach mich mein Vater. Und er schaute Dr. Prunés an, der ehrlich überrascht alle Achtung, alle Achtung sagte.
»Wie niedlich«, sagte Dr. Prunés’ Frau.
»Fèlix …«, sagte meine Mutter.
»Vater …«, sagte ich.
»Seid still!«, sagte mein Vater und zu den Gästen: »Das istnoch gar nichts.« Er schnippte mit den Fingern in meine Richtung und befahl schneidend: »Jetzt Griechisch.«
»Heis mia hen, duo, treis tria, tettares tettara, pente, hex, hepta, octo, ennea, deka.«
»Aus-ge-zeich-net!« Nun durfte das Ehepaar Prunés befreit das Spektakel beklatschen.
»Howgh.«
»Nicht jetzt, Schwarzer Adler.«
Vater zeigte auf mich, mit einer Handbewegung, die von oben nach unten ging, als präsentierte er einen frisch geangelten Seewolf, und sagte stolz: »Zwölf Jahre.« Und zu mir, ohne mich anzusehen: »Na, los, du kannst wieder gehen.«
Ich schloss mich in meinem Zimmer ein, enttäuscht von meiner Mutter, die keinen Finger gerührt hatte, um mich aus der misslichen Lage zu befreien, und vertiefte mich in Karl May, um meinen Kummer zu vergessen. Und der Sonntagnachmittag ging allmählich in den Abend und in die Nacht über. Weder Schwarzer Adler noch der tapfere Carson wagten, mich in meinem Leid zu stören.
Und dann kam der Tag, an dem ich Cecílias wahres Gesicht kennenlernte. Es hatte lange gedauert, bis ich es bemerkte. Als das Glöckchen der Ladentür bimmelte, saß Adrià, der für seine Mutter offiziell in der Schule beim Training der zweiten Handballmannschaft war, in der Ecke bei den Handschriften, wo er für Senyor Berenguer offiziell Hausaufgaben machte, aber in Wahrheit verbotenerweise ein Pergament mit einem lateinischen Text aus dem dreizehnten Jahrhundert studierte, von dem ich fast nichts verstand, der mich aber dennoch fesselte. Das Glöckchen. Sofort dachte ich, mein Vater sei vorzeitig aus Deutschland zurückgekehrt, und jetzt werde es Krach geben; mach dich bereit, dabei hattest du dich so gut nach allen Seiten abgesichert. Ich schaute zur Tür: Senyor Berenguer zog seinen Mantel an und sagte hastig etwas zu Cecília, die eben hereingekommen war. Dann rannte er, den Hut in der Hand, mit verärgerter Miene an ihr vorbei und hinaus, ohne auf Wiedersehen zu sagen. Cecília blieb nachdenklich im Mantel an der Tür stehen. Ich wusste nicht, ob ich hallo,Cecília sagen oder abwarten sollte, bis sie mich entdeckte. Nein, es war besser, ich sagte nichts; aber dann würde sie es sicher merkwürdig finden, dass ich mich nicht gleich zu erkennen gegeben hatte. Und das Manuskript? Vielleicht sollte ich es …, nein, ich verstecke mich lieber und …, oder am besten warte ich bis … Ich werde auf Französisch denken müssen.
Er beschloss, im Verborgenen zu bleiben, während Cecília einen Seufzer ausstieß, ins Büro ging und den Mantel ablegte. Ich weiß nicht warum, doch war die Luft an diesem Tag zäh. Cecília kam nicht mehr aus dem Büro. Und auf einmal hörte ich jemanden weinen. Cecília weinte dort drinnen, und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken, denn jetzt durfte sie keinesfalls erfahren, dass ich ihr heimliches Weinen gehört hatte. Erwachsene weinen manchmal. Und wenn ich zu ihr ginge und sie tröstete? Sie tat mir leid, denn Cecília war bei uns hoch geschätzt, und selbst meine Mutter, die sonst nur mit abfälliger Miene von den Frauen sprach, mit denen mein Vater Kontakt hatte, sagte über sie immer nur Gutes. Adrià wäre also am liebsten im Erdboden versunken. Cecília telefonierte, heftig drehte sie die Wählscheibe. Und ich stellte sie mir dabei vor, aufgebracht, zornig, und merkte gar nicht, dass ich derjenige war, dem Gefahr drohte, denn sie konnte jeden Moment den Laden zumachen, und dann wäre ich dort drinnen bei lebendigem Leib eingemauert.
»Du bist ein Feigling. Nein, nein, lass mich ausreden: ein Feigling. Seit fünf Jahren dieselbe Leier: Ja, Cecília, nächsten Monat gestehe ich ihr alles, das verspreche ich dir. Feigling. Fünf Jahre hältst du mich nun schon hin. Fünf Jahre! Ich bin kein kleines Mädchen mehr.«
Das sah ich auch so. Den Rest konnte ich mir nicht erklären. Und Schwarzer Adler hielt zu Hause auf dem Nachttisch seelenruhig sein Mittagsschläfchen.
»Nein, nein, nein!
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