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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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aus der Storioni. Weder nächste Woche noch sonst irgendwann.«
    Das nennt man moralische Erpressung. Aber Bernat wusste nicht, was er noch tun sollte, außer nie wieder zu sagen, das Vibrato könne man nicht lernen, man müsse es finden. Er zeigte ihm, wie er die Hand halten musste, und machte ihm die Bewegung vor.
    »Nicht doch, die Saiten sind doch kein Allioli, das man quirlen muss. Entspann dich!«
    Adrià wusste nicht genau, was es hieß, sich zu entspannen, aber er entspannte sich. Er schloss die Augen und fand das Vibrato schließlich am Ende eines langen Cs auf der zweiten Saite. Ich werde es mein Leben lang nicht vergessen, denn mir schien, als würde ich endlich lernen, die Töne zum Lachen und zum Weinen zu bringen. Und nur weil Bernat da war und man bei uns zu Hause keinen Lärm machen durfte, brach ich nicht in Freudengeheul aus.
    Trotz dieses Glücksgefühls, an das ich mich noch heute erinnere, und trotz meiner unendlichen Dankbarkeit gegenüber meinem neuen Freund hatte ich nicht den Mut, ihm von dem Arapaho-Häuptling oder dem tabakkauenden Carson zu erzählen, weil es keinen guten Eindruck gemacht hätte, wenn ein zehnjähriger Junge, der sich als Wunderkind gerierte, noch mit Arapaho-Häuptlingen und hartgesottenen, schnauzbärtigen Sheriffs spielte. Und so stand ich einfach nur mit offenem Mund da und sann den Klängen nach, die ich auf meiner Übungsgeige hervorgebracht hatte. Es gelang mir mitder zweiten Saite in der ersten Griffart: Ein C erklang, und Adrià brachte es mit dem zweiten Finger zum Vibrieren. Es war um sieben Uhr abends an einem Herbst- oder Wintertag neunzehnhundertachtundfünfzig in Barcelona, in der Wohnung im Carrer de València, wo ich mein Leben lang wohnen würde, mitten im Eixample, dem Mittelpunkt der Welt, und ich glaubte, den Himmel zu berühren, ohne zu ahnen, wie nah ich der Hölle war.

9
    An diesem Sonntag, einem denkwürdigen Tag, weil Vater beim Aufstehen guter Laune war, hatten meine Eltern Dr. Prunés, den nach Vaters Ansicht besten lebenden Paläographen der Welt, und seine Gattin, die beste Frau des besten lebenden Paläographen der Welt, zum Kaffee eingeladen. Vater zwinkerte mir zu, was ich nicht verstand, wenngleich ich wusste, dass sich dieses Zwinkern auf einen wesentlichen Subtext bezog, den ich mangels Kontext nicht erfassen konnte. Ich habe, glaube ich, schon erwähnt, dass ich ein grässlich frühreifes Kind war und mir immer Gedanken dieser Art machte.
    Das Gespräch drehte sich um den Kaffee, um das feine Porzellan, aus dem der Kaffee besonders gut schmecke, um Handschriften, und gelegentlich schob sich ein unbehagliches Schweigen dazwischen. Da beschloss mein Vater, dass es an der Zeit für den Höhepunkt sei. Laut, damit seine Stimme bis in mein Zimmer drang, gab er den Befehl: »Komm her, mein Sohn. Hast du gehört?«
    Und ob Adrià ihn gehört hatte. Aber er befürchtete ein Desaster.
    »Sooohn!«
    »Ja?« Wie aus weiter Ferne.
    »Hierher.«
    Adrià musste hingehen. Sein Vater hatte glänzende Augen vom Cognac; das Ehepaar Prunés sah das Kind freundlich an. Und seine Mutter schenkte Kaffee nach und scherte sich nicht um Desaster.
    »Hallo, guten Tag.«
    Die Gäste murmelten guten Tag und sahen Senyor Ardèvol erwartungsvoll an. Vater wies mit dem Finger auf meine Brust und befahl: »Zähl mal auf Deutsch.«
    »Vater …«
    »Tu, was ich dir sage.« Der Cognac loderte in seinen Augen. Mutter goss Kaffee ein und blickte auf die Tässchen aus feinem Porzellan.
    »Eins, zwei, drei.«
    »Langsam, langsam, langsam«, unterbrach mich mein Vater. »Noch mal von vorne.«
    »Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn.« Ich hielt inne.
    »Und weiter?«, fragte mein Vater streng.
    »Elf, zwölf, dreizehn, vierzehn.«
    »Et cetera et cetera et cetera«, sagte mein Vater, als wäre er Pater D’Angelo. Und in scharfem Kommandoton: »Und jetzt auf Englisch.«
    »Das reicht, Fèlix«, sagte endlich meine Mutter.
    »Auf Englisch, habe ich gesagt.« In strengem Tonfall zu meiner Mutter: »Oder etwa nicht?«
    Ich wartete ein paar Sekunden, aber Mutter erwiderte nichts.
    »One, two, three, four, five, six, seven, eight, nine, ten.«
    »Großartig, mein Junge«, sagte begeistert der beste lebende Paläograph der Welt. Und seine Frau applaudierte lautlos, bis Vater sie unterbrach, warte, warte, warte, und wieder auf mich deutete.
    »Jetzt auf Lateinisch.«
    »Nein …«, rief der beste lebende Paläograph der Welt bewundernd aus.
    Ich sah

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