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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Pater Valero, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten, sagte, na, Ardèvol?, und dann gab ich die Antwort. Aber das war nicht dasselbe.
    Auch wenn er nicht zugab, dass er nicht wusste, was Schwuchtel bedeutete, fühlte ich mich Bernat verbunden, insbesondere nach dem Tod meines Vaters. Er leistete mir Gesellschaft und half mir, das Leben nicht ganz so befremdlich zu finden. Tatsächlich war auch er ein etwas eigenartiges Kind, auch er war nicht wie die anderen Schüler, die sich zankten, durch Prüfungen fielen und es fertigbrachten –zumindest einige aus der Fünften und der eine oder andere aus der Vierten –, heimlich im Schulhaus zu rauchen. Und dass er in eine andere Klasse ging und wir uns in der Schule kaum sahen, gab unserer Freundschaft etwas Heimliches, Inoffizielles. An jenem Tag jedoch saß mein Freund mit feuchten Augen und hängendem Unterkiefer auf meinem Bett, denn was er soeben erfahren hatte, war ein schwerer Schlag für ihn. Er sah mich hasserfüllt an und sagte, das ist Verrat. Und ich, aber nein, Bernat, das hat meine Mutter entschieden.
    »Und dagegen kannst du dich nicht auflehnen? Kannst du nicht sagen, du musst weiter zur Trullols gehen, weil …«
    Weil wir sonst keinen gemeinsamen Unterricht mehr haben, wollte er sagen, traute sich aber nicht, um nicht kindisch zu wirken. Seine rebellischen Tränen waren beredt genug. Es ist hart, ein kleiner Junge zu sein und sich wie ein Mann benehmen zu müssen und so zu tun, als wäre dir alles egal, was Männern egal zu sein hat, und festzustellen, dass es dir nicht egal ist, was du aber nicht zugeben darfst, denn wenn die anderen merken, dass dir etwas nicht egal ist, lachen sie dich aus und sagen, sei nicht kindisch, Bernat, Adrià, Baby. Und wenn es Esteban ist, wird er sagen, Mädchen, was bist du doch für ein Mädchen. Nein, jetzt wird er Schwuchtel sagen, was bist du doch für eine Schwuchtel. Und zugleich mit dem Flaum auf der Oberlippe wuchs in uns die Erkenntnis, dass das Leben eine ziemlich verzwickte Angelegenheit war. Aber noch war es nicht wahnsinnig verzwickt; noch war ich dir nicht begegnet.
    Wir vesperten schweigend. Lola Xica gab diesmal jedem von uns gleich zwei Riegel Schokolade. Lange saßen wir stumm auf dem Bett, kauten Brot und blickten in unsere komplizierte Zukunft. Und dann übten wir Akkorde, und ich war das Echo zu dem, was Bernat spielte, auch wenn es nicht in der Partitur stand, weil die Übung so mehr Spaß machte. Trotzdem waren wir niedergeschlagen.
    »Sieh mal da, sieh dir das an, sieh nur …!«
    Mit weit aufgerissenen Augen legte Bernat den Bogen auf dem Notenständer ab und trat ans Fenster. Die Welt hatte sichverändert, der Kummer war schon weniger groß; sollte sein Freund mit seinen Geigenlehrern doch machen, was er wollte; das Blut pulste wieder durch Bernats Adern. Durch den Lichtschacht sah er zu einem Zimmer auf der anderen Seite hinüber, das hinter einer dünnen Gardine hell erleuchtet war. Dort war der Oberkörper einer nackten Frau zu sehen. Nackt? Wer ist das? Sag schon.
    Es war Lola Xica. Es war Lolas Zimmer. Lola Xica nackt. Na, so was. Oben ohne. Sie zog sich um. Sie wollte wohl ausgehen. Nackt? Adrià hatte den Eindruck, als …, man konnte nichts richtig erkennen, aber die zugezogene Gardine machte es noch aufregender.
    »Das ist das Nachbarhaus. Ich kenne sie nicht«, erklärte ich rasch, während ich den Auftakt zu Takt achtzehn anstimmte, denn jetzt war Bernat mit dem Echo an der Reihe. »Na komm, mal sehen, ob wir es jetzt hinkriegen.«
    Bernat kam erst an den Notenständer zurück, als Lola wieder vollständig bekleidet war. Die Übung gelang recht gut, doch Adrià war verstimmt über die Begeisterung seines Freundes und auch, weil er selbst Lola Xica lieber nicht nackt gesehen hätte … Die Brüste einer Frau sind … Es war das erste Mal, dass er welche gesehen hatte, wenn nicht die Gardine…
    »Hast du schon mal eine nackte Frau gesehen?«, fragte Bernat, als sie mit der Übung fertig waren.
    »Gerade eben, oder nicht?«
    »Na ja, die war mehr zu erahnen. Ich meine richtig gesehen. Ganz.«
    »Kannst du dir die Trullols nackt vorstellen?«
    Das sagte ich, um seine Aufmerksamkeit von Lola Xica abzulenken.
    »Spinnst du?«
    Ich hatte sie mir hundertmal vorgestellt. Nicht, dass sie eine hübsche Frau gewesen wäre, sie war hochgewachsen, hager und hatte lange Finger. Aber ihre Stimme war schön, und sie sah mir in die Augen, wenn sie mit mir sprach. Doch wenn sie spielte, ja, dann stellte ich

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